experimenta 01/2023
Liebe Leserinnen und Leser der experimenta, empfinden Sie das auch so? Mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit fließen die Tage dahin. Zurück bleibt nur die Erinnerung an das, was einmal war. Das Gestern gehört der Vergangenheit an und Morgen wird die Zukunft von der Gegenwart schon wieder eingeholt sein. Wir befinden uns ununterbrochen im Kreislauf von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Alles schwingt zur gleichen Zeit mit im WeltenGeschehen. Genaugenommen gibt es weder einen Anfang noch ein Ende. Eingewoben in die kosmischen Energien sind wir eins mit all dem, was da ist und mit all dem, was da nicht ist. Literatur und Kunst sind gesellschaftliche Ereignisse, die ein friedliches und ein kreatives Zusammenleben ermöglichen. In diesen Zeiten des Umbruchs wird die Förderung der Kultur häufig vergessen. Viele Künstlerinnen und Künstler leiden unter dieser Situation und sind kaum dazu in der Lage, ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Konzerte finden nicht statt, Lesungen werden abgesagt, Galerien schließen. Das hat zur Folge, dass immer mehr Kunstschaffende der Kunst den Rücken kehren, um an anderer Stelle zu ihrem Lebensunterhalt beizutragen. Literatur, Kunst, Musik können nur dann fortbestehen, wenn die finanziellen Voraussetzungen dafür vorhanden sind. Das gilt auch für die experimenta. Wir können Sie nur deshalb jeden Monat mit Kunst überraschen, weil Sie als Leserinnen und Leser mit Ihren Spenden dazu beitragen, dass wir die zunehmend ansteigenden Kosten bewältigen können. Dafür möchten wir Ihnen an dieser Stelle danken! Wir bleiben Ihnen als Magazin mit Literatur-, Kunst-. Und Gesellschaftsthemen treu, so wie Sie uns in den 20 Jahren unseres Bestehens treu geblieben sind! Rüdiger Heins
Liebe Leserinnen und Leser der experimenta,
empfinden Sie das auch so? Mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit fließen die
Tage dahin.
Zurück bleibt nur die Erinnerung an das, was einmal war.
Das Gestern gehört der Vergangenheit an und Morgen wird die Zukunft von der
Gegenwart schon wieder eingeholt sein.
Wir befinden uns ununterbrochen im Kreislauf von Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft.
Alles schwingt zur gleichen Zeit mit im WeltenGeschehen.
Genaugenommen gibt es weder einen Anfang noch ein Ende.
Eingewoben in die kosmischen Energien sind wir eins mit all dem, was da ist und mit all
dem, was da nicht ist.
Literatur und Kunst sind gesellschaftliche Ereignisse, die ein friedliches und ein
kreatives Zusammenleben ermöglichen.
In diesen Zeiten des Umbruchs wird die Förderung der Kultur häufig vergessen. Viele
Künstlerinnen und Künstler leiden unter dieser Situation und sind kaum dazu in der Lage,
ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften.
Konzerte finden nicht statt, Lesungen werden abgesagt, Galerien schließen. Das hat zur
Folge, dass immer mehr Kunstschaffende der Kunst den Rücken kehren, um an anderer
Stelle zu ihrem Lebensunterhalt beizutragen.
Literatur, Kunst, Musik können nur dann fortbestehen, wenn die finanziellen
Voraussetzungen dafür vorhanden sind. Das gilt auch für die experimenta. Wir können
Sie nur deshalb jeden Monat mit Kunst überraschen, weil Sie als Leserinnen und Leser
mit Ihren Spenden dazu beitragen, dass wir die zunehmend ansteigenden Kosten
bewältigen können. Dafür möchten wir Ihnen an dieser Stelle danken!
Wir bleiben Ihnen als Magazin mit Literatur-, Kunst-. Und Gesellschaftsthemen treu, so
wie Sie uns in den 20 Jahren unseres Bestehens treu geblieben sind!
Rüdiger Heins
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experimenta
01/2023
Herausgegeben von
Prof. Dr. Mario Andreotti
und Rüdiger Heins
Sie finden die
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Inhalt
Titelbilder ∞ Sandra Eisenbarth
Rüdiger Heins 3 Editorial
Peter Reuter 5 Die Zukunft ist die Heimat der Hoffenden....
Christian Schneider 8 Herzensergießungen eines Träumers.
Minna Maria Rembe 12 Trilogie der Lyrik
Theresa Bouvardien 15 Das ist der Weg und der Weg ist nicht immer schön
Sandra Eisenbarth 19 2023 – Das Jahr des Hasen (Chinesisches Horoskop) als Titelmotiv
22 Drei Fragen
Wollsteins Cinemascope 23 White Noise
24 Disibodenberger Schnipsel: Die Werte der experimenta
25 Seminar
Nora Hille 26 Der Blinde Fleck
Ein Text anlässlich des Internationalen Holocaust-Gedenktags
Rüdiger Heins 35 experimenta im Gespräch mit Anne Mai
40 Literaturwettbewerb „Preis der Gruppe 48 für das Jahr 2023“
Katharina Schweissguth 41 Die Kunst, ein Einhorn aus dem Papierkorb zu fischen
Christian Sünderwald 44 Der Quantensprung der Computer
Peter H. E. Gogolin 48 Morgen ist ein anderer Tag
56 Theater - Vision der Liebe
58 Impressum
Die eXperimenta kann für 12 € (zzgl. 3 € Porto) auch als Druckausgabe bestellt werden:
abo@experimenta.de — bitte Ihre Postadresse mit angeben.
www.experimenta.de
1
Editorial
Editorial
Bisherige Aufrufe
der
experimenta-Ausgaben
Stille Nacht
94.537 Aufrufe
Persischer Frühling:
78.941 Aufrufe
Wozu sind Kriege da?:
82.670 Aufrufe
ALTWEIBERSOMMER:
229.825 Aufrufe
LEBEN ERLEBEN:
410.741 Aufrufe
EDITORIAL
Liebe Leserinnen und Leser der experimenta,
empfinden Sie das auch so? Mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit fließen die
Tage dahin.
Zurück bleibt nur die Erinnerung an das, was einmal war.
Das Gestern gehört der Vergangenheit an und Morgen wird die Zukunft von der
Gegenwart schon wieder eingeholt sein.
Wir befinden uns ununterbrochen im Kreislauf von Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft.
Alles schwingt zur gleichen Zeit mit im WeltenGeschehen.
Genaugenommen gibt es weder einen Anfang noch ein Ende.
Eingewoben in die kosmischen Energien sind wir eins mit all dem, was da ist und mit all
dem, was da nicht ist.
Literatur und Kunst sind gesellschaftliche Ereignisse, die ein friedliches und ein
kreatives Zusammenleben ermöglichen.
In diesen Zeiten des Umbruchs wird die Förderung der Kultur häufig vergessen. Viele
Künstlerinnen und Künstler leiden unter dieser Situation und sind kaum dazu in der Lage,
ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften.
Konzerte finden nicht statt, Lesungen werden abgesagt, Galerien schließen. Das hat zur
Folge, dass immer mehr Kunstschaffende der Kunst den Rücken kehren, um an anderer
Stelle zu ihrem Lebensunterhalt beizutragen.
Literatur, Kunst, Musik können nur dann fortbestehen, wenn die finanziellen
Voraussetzungen dafür vorhanden sind. Das gilt auch für die experimenta. Wir können
Sie nur deshalb jeden Monat mit Kunst überraschen, weil Sie als Leserinnen und Leser
mit Ihren Spenden dazu beitragen, dass wir die zunehmend ansteigenden Kosten
bewältigen können. Dafür möchten wir Ihnen an dieser Stelle danken!
Wir bleiben Ihnen als Magazin mit Literatur-, Kunst-. Und Gesellschaftsthemen treu, so
wie Sie uns in den 20 Jahren unseres Bestehens treu geblieben sind!
× Sandra Eisenbarth,
Shopping Queen (die Frau vom
Froschkönig)
2 01/2023 www.experimenta.de 3
Editorial
Prosa
experimenta-Leserinnen und -Leser sowie die Redaktion sind ein kreatives Team, das in all den Jahren
zusammengewachsen ist und somit ein Stück Zukunft geschaffen hat.
Diesen Weg werden wir gemeinsam weiter beschreiten, damit die Kunst nicht in Vergessenheit gerät.
Peter Reuter
Die Zukunft ist die Heimat der Hoffenden....
Eine Erkenntnis, die Hoffnung verspricht!
Rüdiger Heins
× Rüdiger Heins ist freier Schriftsteller sowie Regisseur und Verleger. Er
produziert Beiträge für Hörfunk, Fernsehen und Theater. Er ist Dozent im
Creative Writing sowie Gründer und Studienleiter des INKAS – Institut
für Kreatives Schreiben in Bingen am Rhein und in der Niedermühle in
Odernheim.
Er ist Mitherausgeber der experimenta, des Magazins für Literatur, Kunst und
Gesellschaft. Auf der Landesgartenschau in Bingen schuf er einen Haiku-Garten.
Mit ehemaligen chinesischen Gefangenen, die von Organentnahme bedroht
waren, entstand das Buch- und Filmprojekt "Ausgeschlachtet". Sein Theaterstück
"Allahs Heilige Töchter" machte auf die Lebenssituation von Muslima, die
in Deutschland leben, aufmerksam. Das Stück musste unter Polizeischutz
aufgeführt werden.
Rüdiger Heins ist Mitglied beim PEN-Zentrum Deutschland. (Quelle: Wikipedia)
2015 schrieb ich mit meiner Freundin Barbara Naziri
das Buch „Herbstgeflüster“. In ihm sind Gedichte
und Geschichten zwischen Okzident und Orient zu
finden. Ein großes Kapitel darin beschäftigt sich mit
der Heimat, mit der von Barbara, mit meiner und
mit der verlorenen oder noch nicht gefundenen.
Aus diesem Buch entnahm ich Texte von mir zur
Betrachtung der Heimat, habe sie überarbeitet,
aktualisiert und ergänzt.
Liebe Freundin,
Du hast Recht, die Sache mit der Heimat, sie
ist mehr als nur ein bisschen verzwickt. Nun,
Dein Leben ist geprägt von Erfahrungen und
Erkenntnissen, welche Dich durch ihre Umstände
geprägt haben, wie ich es nicht erleben musste. Nun
denke ich intensiv über das von Dir Geschriebene
zum Thema Heimat nach.
Geboren bin ich im Südschwarzwald, eine etwas
unheimliche und doch mehr als schöne Landschaft.
Zumindest empfand ich das als Kind so. Nur
hatte die Landschaft einen entscheidenden
Nachteil. Man wollte mir nicht zugestehen, dass
ich mich als ein geborener Südschwarzwälder
fühle, waren doch meine Eltern nicht diesem
Kreise zugehörig. Die Mutter eine Pommersche
und der Vater aus Danzig, beide Gegenden jeweils
ein eindeutiger Verdachtsmoment. Welche der
beiden Herkunftsregionen in den Augen der
mit der Gnade der einwandfreien Abstammung
behafteten die schlimmere war, inzwischen ist
mir es entfallen. Wo ich hingehöre und wessen
Abstammung ich bin, damals habe ich es an zwei
Ereignissen festgemacht. Da war die Einweihung
des Kindergartens. An der Kaffeetafel hatten wir
Kinder unseren vorbestimmten Platz mit dem von
daheim mitgebrachten Gedeck. Die Unterseite
unseres Kuchentellers war jeweils mit unserem
Namen beschriftet. Das Gedeck eines anderen
Kindes hatte das gleiche Dekor wie das meine. Steif
und fest und laut behauptete es, mein Platz sei
in Wirklichkeit der seine. Lesen konnten wir beide
noch nicht. Der Junge weinte nach seiner Mutter.
Diese kam zum Tisch, kontrollierte das Gedeck,
nannte mich ein dreckiges Flüchtlingskind. Mit
dem Flüchtling hatte sie recht. Das mit dem Dreck
hätte meine Mutter nie durchgehen lassen. Danach
war mir klar, dass ich weniger wert war als ein
Südschwarzwälder. Die zweite Geschichte ereignete
sich vor der katholischen Kirche. Bei einer Hochzeit
im Dorf war es Brauch, dass Kinder den Ausgang
der Kirche mit einem Seil absperrten. Der Bräutigam
war in der Pflicht, für sich und seine Frau den Weg
freizukaufen, der Tarif lag bei zwei Mark. Naiv, ich
bin es ganz sicher auch heute noch, hatte ich nicht
bedacht, dass ich ein evangelisches Flüchtlingskind
war. Diese Erkenntnis wurde mir durch eine Portion
Prügel katholischer Rechtgeborener beigebracht.
Nun, ich war zu feige, mich mit Schlägen zu wehren
– und ich habe mich bei einer Hochzeit nie mehr vor
eben diese Kirche gestellt. Alles hat sich an meinem
Geburtsort abgespielt. Und der hat leider darauf
verzichtet, Heimat werden zu wollen. Damals war es
so, dass für dreckige Flüchtlinge und deren Kinder
nicht vorgesehen war, im Südschwarzwald Platz
und Heimat anzubieten. Tja, diese Tradition, sie lebt
heute immer noch und immer mehr, nicht nur dort
- im Südschwarzwald. Auch in den Köpfen vieler
Menschen ist sie mehr als lebendig. Auch an der
Stelle, an der diese ein Herz haben sollten, hat sich
diese unselige gelernte Tradition eingenistet – eben
ihre Heimat gefunden.
Später zogen wir nach Karlsruhe. Noch später
zogen meine Familie und ich nach Berlin und nach
4 01/2023 www.experimenta.de 5
Prosa
Prosa
Hamburg und wieder zurück in die Pfalz, der Heimat
meiner Frau. Zumindest alle relevanten Orte habe
ich jetzt gestreift – und bin immer noch nicht bei
oder in dem angekommen, was man Heimat heißt.
Was also ist sie, diese so wichtige und so oft und in
allen Sprachen besungene Heimat?
WIKIPEDIA weiß darauf eine Antwort, die ich Dir
nicht vorenthalten mag:
„Der Begriff Heimat verweist zumeist auf
eine Beziehung zwischen Mensch und Raum.
Im allgemeinen Sprachgebrauch wird er
auf den Ort angewendet, in den ein Mensch
hineingeboren wird und in dem sich die frühesten
Sozialisationserlebnisse ereignen, die zunächst
Identität, Charakter, Mentalität, Einstellungen und
Weltauffassungen prägen.“
Weiter lese ich zu meiner Beruhigung, dass eine
allgemeinverbindliche Definition nicht existiert.
Dieser Umstand findet meine Zustimmung und
beunruhigt mich doch sehr. Wo also ist die meine
Heimat tatsächlich?
Heimat – tja, sie ist dort, wo eben die Menschen
sind, die mich lieben und die ich lieben darf. Die
Menschenliebe allein, sie ist die Heimat. Und jetzt
gehe ich wieder ein Stück in Deine Richtung, liebe
Bary, wenn ich behaupte, dass sie sich manchmal
gerne versteckt, diese Heimat. Bei Dir als auch bei
mir....
Mit diesem etwas hilflosen Geschreibsel, Argumente
mag ich es nicht nennen, möchte aber auf eines
hinweisen: Heimat ist nicht nur jetzt, Heimat ist
auch die Vergangenheit – und die Zukunft. Der
Vergangenheit haben wir uns zu stellen oder uns an
ihr zu freuen. Im Jetzt ist Heimat so zu leben, dass
alle Menschen ihren Platz und ihre Würde finden,
haben und behalten.
Die Zukunft ist die Heimat der Hoffenden.
Dazu gehöre auch ich – für meine Familie, für Dich
und die Deinen, für die Menschen. Heimat ist ein
mehrschichtiger Ort und verbindlich festgelegt.
Die Erde ist es – und die Herzen der Menschen.
Eigentlich ist es einfach – und irgendwie auch
nicht....
Liebste Freundin, kein Aufsatz, nicht einmal eine
Satire, welche ich über die Heimat zu Papier bringe.
Es sind nicht selten hilflose, sich widersprechende
Gedanken. Die Liebe zu und durch die Menschen,
sie ist es auch. Und doch ist sie es allein, welche der
Heimat den notwendigen Platz einräumt, jederzeit
und immer – und immer wieder. Deswegen, liebe
Bary, deswegen liebe ich diese Heimat, meine
Heimat.
Bei diesem Gedankenspaziergang, zu dem Du mich
eingeladen hattest, ich dachte mehr als einmal
daran, noch schnell einige Zeilen neu zu erdenken
und zu schreiben, beizufügen oder einzugliedern.
Bis auf das nachfolgende Gebet der Vereinten
Nationen habe ich es nicht getan. Aber dieses
eine Gebet, es muss einfach sein. Das Betrachten
der Heimat und deren Hang zum Verdrängen und
zur Vergesslichkeit – wir aber dürfen dies nicht
vergessen. Aber in den folgenden Zeilen dürfen wir
uns und die Heimat alle finden:
Gebet der Vereinten Nationen
Herr, unsere Erde ist nur ein kleines Gestirn im
großen Weltall. An uns liegt es, daraus einen
Planeten zu machen, dessen Geschöpfe nicht von
Kriegen gepeinigt werden, nicht von Hunger und
Furcht gequält, nicht zerrissen in sinnlose Trennung
nach Rasse, Hautfarbe oder Weltanschauung. Gib
uns den Mut und die Voraussicht, schon heute mit
diesem Werk zu beginnen, damit unsere Kinder und
Kindeskinder einst mit Stolz den Namen Mensch
tragen.
Mehr Wahrhaftigkeit in meiner Betrachtung zur
Heimat konnte ich nicht finden. Dieses Gebet
scheint ein Schlüssel zu sein – aber die Tür müssen
wir gemeinsam noch suchen, auch in uns....
× Peter Reuter, geboren im letzten Jahrhundert, nämlich 1953. Als Schreibender unterwegs in den Bereichen
Kurzgeschichte und Satire, meist zeitkritischer Gedichte und dem Haiku. Die Wurzeln liegen beim politischen
Kabarett, wo alles als Texter begann. Neben fünf eigenen Büchern ist er in allen Ausgaben der WORTSCHAU
als Magazin oder Buch, in einigen Anthologien und Literaturzeitschriften vertreten. Bis 2014 Mitherausgeber der
WORTSCHAU, welche er mit Wolfgang Allinger gegründet hat. Peter Reuter war Stadtschreiber in Bad Bergzabern
und ist aktuell Mitglied des Vorstandes des Verbands deutscher Schriftsteller in Rheinland-Pfalz. Ferner gehört er
der Literaturgruppe „Grenzenlos“ an. Er arbeitet unter anderem für das Radio und veröffentlicht auch fleißig im
journalistischen Bereich. Mit seiner Familie lebt er in der Südpfalz. Er ist Mitglied des PEN-Zentrum Deutschland.
× Sandra Eisenbarth
6 01/2023 www.experimenta.de 7
Lyrische Prosa
Lyrische Prosa
Christian Schneider
Herzensergießungen eines Träumers
Was ist ein Dichter? Was ist die Romantik? Was ist
ein Dichter der Romantik?
Der Dichter der Romantik trägt alle Weltzeitalter
in sich und er kennt alle Abgründe in Mensch und
Natur. Nichts kann ihm verborgen bleiben.
Der Riss, der durch die Welt geht, geht mitten durch
sein eigenes Herz!
In ihm ist alles! In ihm ist die Phantasie und die
Poesie, die Philosophie und die Alchemie, die
Religion und die Musik, die lebendigen Märchen und
die Offenbarung, die Liebe und die Geburt und der
Tod!
So lang ist das schon her.
Und die Natur gar selbst, die mir als holde,
ehrfurchteinflößende göttliche Jungfrau erschien,
sie selbst lächelte und blickte mich!!! an!
Doch irgendwann, am Tage des Sündenfalls,
habe ich die göttliche Jungfräulichkeit der Natur
geschändet und somit den Altar ihres heiligen
Schoßes mit Blut und Schande befleckt!
Dann konnte ich nicht mehr himmlisch dichten
und singen, und die wunderschönen Naturgeister-
Nymphen und -Knaben begannen sich vor mir zu
verstecken!
Doch gefunden hatte ich die „Blaue Blume“ noch
lange nicht.
Victor Hugo brachte seinen Roman „Der Glöckner
von Notre-Dame“ hervor und mit einem Schrei aus
meinem Schlangenmaul, denn ich war inzwischen
zu einem unansehnlichen Schlangenmensch-Wesen
verunstaltet, erkannte ich mich als widerlichen und
angespienen, buckligen Glöckner wieder.
Weiter und weiter gingen die Tage und Nächte schier
endlos ins Land, bis ich schließlich zu den Zwei-mal-
Geborenen, zu den Brahmanen, zu den Prajapita
Brahma Kumaris kam und unter schluchzend heißen
Tränen habe ich die „Blaue Blume“ gesehen.
× Christian Schneider (Jahrgang 1980), Dichter und Denker mit besonderer Liebe zur Epoche der Romantik und
der Hohen Minne des Mittelalters mit seinen Legenden über Feen, Edeldamen und Einhörner. Schneider besingt
in seinen Texten und Gedichten die Mythologien aus aller Welt, insbesondere die des alten Indien und des alten
Griechenland. Außerdem nähert er sich philosophisch dem Apollon-Dionysos-Thema und dessen geschichtlichtiefenpsychologisch-symbolisch-mythologisch-religiös-spirituellen-dichterisch-künstlerischen-psychosozialen
Zusammenhang und seiner Auswirkung.
Er hat teil am lebendigen Pulsschlag der
Da wusste ich, ein Unheil war mir geschehen.
Mythologien. Er spricht mit der Natur und die Natur
Und von der Natur und ihren zärtlichen Geistern
spricht zu ihm.
verlassen, begab ich mich unter die Menschen und
suchte dort zu finden, was die Natur-Gottheiten mir
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Die fünf Elemente werden als personifiziert
erfahren, und so erlebt der Dichter der Romantik auf
poetisch-geheimnisvolle Weise intimen Austausch
mit ihr.
Doch zuweilen tritt auch ihm die Natur stumm, starr
und grässlich entstellt entgegen.
nicht mehr zugestanden.
Aus dem keuschen Tempel des Apollon konnte
ich auch meine Leier nicht mehr retten, die ich im
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Vielleicht bin ich ein Dichter, vielleicht bin ich ein
Poet. Vielleicht nennen mich andere einen Dichter,
einen Poeten. Wiederum andere schimpfen mich
so auf den Felsen stehe, unter mir die Brandung, die
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ich auf die Göttinnen und Götter der deutschen
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Meine Poesie hier ist nichts mehr wert! Früher
war ich Poet und Sänger. Ich sang so schön,
Alle den hier genannten und nicht genannten, liefen
dass alle Elemente der Natur sich vor mir in die
Tränen der Wiedersehensfreude aus den Äugelein,
allerschönsten Mädchen und Knaben verwandelt
als wir uns sahen, mir liefen sie natürlich auch.
221208 NIV
haben und sie wussten, mich als ihren Beschützer
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8 01/2023 www.experimenta.de 9
WeltenGeschehen
WeltenGeschehen
eXperimenta
Mit Katja Richter durch das Jahr 2023
Die Künstlerin Katja Richter wird uns mit ihren Bildern durch das Jahr 2023 begleiten. Mit jeweils einem
Bild pro Monat spiegelt sie mit ihren Werken den Zeitgeist. „Hoffnung“ heißt das Thema, welches Katja
Richter für den Januar gemalt hat.
× Katharina Schweißguth,
Kreißende Welt
10 01/2023 www.experimenta.de 11
Trilogie der Lyrik
In eigener Sache
Zwölf Jahre Trilogie der Lyrik: 2011 bis 2023
Die experimenta veröffentlicht seit Dezember 2011 die Rubrik „Trilogie der Lyrik“.
Hier erschienen bisher unter anderem Texte von Maja Rinderer (Österreich), Marcela Ximena
Vásquez Alarcón (Chile), Rafael Ayala Paéz (Kolumbien), Ingritt Sachse, Cuti (Brasilien), Johannes
Kühn, Charles Bukowski (USA), Gioconda Belli (Nicaragua), Arnfrid Astel, Bertram Kottmann/Emily
Dickinson (USA), Ernesto Cardenal (Nicaragua), Rüdiger Heins, Xu Pei (China), Anne Waldman
(USA), Jens-Philipp Gründler, Thorsten Trelenberg, SAID (Iran), Vinzenz Fengler, Johanna Kuppe,
Moira Walsh, Dr. Annette Rümmele, Franziska Range, Marlene Schulz, Anna Leoni Riegraf.
Spendenaufruf
Die experimenta lebt nicht nur von Luft und Liebe, sondern auch von Ihren Spenden.
Aktuell: Minna Maria Rembe
Deswegen möchten wir Sie bitten, uns mit einer Spende dabei behilflich zu sein, dass wir die laufenden
Kosten, die Monat für Monat anfallen, begleichen können.
Wir befinden uns in einem Kreislauf des Gebens und des Nehmens! Die experimenta liefert Ihnen Monat
Das Paradies
Tragen wir nicht in uns die Bilder von königlichen Gärten, bewässert von
klaren Quellen, üppiger Blumenpracht, betörenden Düften, reifen Früchten?
Welch ein Glück. Adam und Eva. Löwe spielt mit dem Reh , eine Einheit von
Mensch und Tier in Vollkommenheit.
Ewiger Friede. Die Erde als gemeinsames Erbe. Der Himmel
vereint die unendlichen Weiten. Der Tanz der JahresZeiten.
Saat und Ernte, Auszeit und Stille.
Der Garten Eden. Ort der Liebe und ewiger Schönheit.
SchöpfungsLicht.
Bilder unserer Seele. Der Glaube daran öffnet uns die Pforte.
Dahin können wir immer wieder zurückkehren.
für Monat Literatur-, Kunst- und Gesellschaftsthemen. Im Gegenzug spenden Sie für die redaktionelle
Arbeit unseres Magazins.
Besonders in der heutigen Zeit ist es von Bedeutung, dass künstlerisch wertvolle Projekte wie die
experimenta weiter existieren können, damit die Welt weiterhin ein Stück farbiger ist.
Sie können gerne eine Spende Ihrer Wahl auf folgendes Konto überweisen:
ID Netzwerk für alternative Medien- und Kulturarbeit e.V.
Mainzer Volksbank
IBAN: DE57 5519 0000 0295 4600 18
BIC: MVBMDE55
Verwendung: eXperimenta
Herzliche Grüße
Ihre experimenta-Redaktion
× Minna Maria Rembe 1949 in Kaiserslautern geboren, Kindheit in der Nordpfalz verbracht, Wanderjahre zwischen
1967 und 1972 -Stuttgart, Alzey, Mannheim und Hamburg-seitdem HeimatOrt: Langmeil/Pfalz. Veröffentlichungen
ab1990: Tanze durchs Leben (2018) Haiku, Gedichtband mit eigenen Illustrationen in Arbeit. März 2023 bei Edition
MAYA. Im Vorstand: Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Rheinland-Pfalz von 2004-2022.
12 01/2023 www.experimenta.de 13
Künstlerin des Monats
Unterwegs
Theresa Bouvardien
Das ist der Weg – und der Weg ist nicht immer schön
Unterwegs auf dem Camino del Norte –Teil 3
× Sandra Eisenbarth, Süßer die Glocken nie klingen
In Mondoñedo prangt ein Regenbogen über der
Kathedrale. Aber vorm Zubettgehen in der Herberge
erschlägt mich die Einsamkeit. Nachdem ich den
ganzen Tag befürchtet habe kein Bett mehr zu
bekommen, weil seit ein paar Tagen plötzlich viel
mehr Pilger auf dem Camino sind, herrscht nun im
Schlafsaal gähnende Leere. Die einzigen beiden
anderen Pilgerinnen, zwei Spanierinnen, sind
ausgegangen. Warum mache ich das nochmal?
Alleine in so einem blöden Schlafsaal liegen? Am
nächsten Tag steht die ultimative Steigung des
Camino del Norte an. Ich fühle mich wie vor einem
Wettkampf. Tagelang habe ich mich vor dem Berg
gefürchtet, es sind über 600 Höhenmeter am
Stück. Man hat die Wahl zwischen einer kürzeren,
steileren Variante, die den Höhenunterschied
auf nur drei Kilometern überwindet oder einem
17 Kilometer langen stetigem Anstieg. Als ich
mich im Nieselregen dem Berg nähere, denke ich
plötzlich, dass ich jetzt meinen Berg an negativen
Glaubenssätzen erklimme. Anders kann ich nicht
erklären, warum ich unbedingt diese Variante
nehmen wollte. Aber ich fühle: Ich will auf den
Berg. Ich muss diesen Berg bezwingen. Der Weg
ist so steil, er führt gefühlt senkrecht nach oben.
Die Kilometersteine scheinen mich zu verhöhnen,
100 Meter sind gefühlte drei Kilometer und die Zeit
scheint still zu stehen. In Galicien nehmen sie die
Entfernungsangaben nämlich sehr genau und alle
paar Minuten findet sich ein Meilenstein, der die
Entfernung nach Santiago auf den Meter genau
angibt. So exakt will ich es eigentlich gar nicht
wissen, vor allem nicht auf diesem endlosen, steilen
Berg. Dann holt mich der Kolumbianer ein, ein alter
Freund von vor 200 Kilometern, und wir kämpfen
uns angeregt ins Gespräch vertieft den Berg hoch.
Plötzlich stehen wir völlig überrascht auf dem Gipfel
– irgendwie war es gar nicht so schlimm. Oft ist
eben die Angst schlimmer als die Umsetzung in die
Tat.
Tags darauf in Baamonde kommen die Pilger dazu,
die nur die letzten 100 Kilometer gehen. Wir kommen
Santiago nun immer näher, bald werden wir auf den
Camino Frances treffen, den Weg der vor allem jetzt,
in der Woche vor Ostern, vor Pilgern aus allen Nähten
platzt. Schon am nächsten Morgen verlassen wir
fröhlich das still und ehrfürchtig schlafende Kloster
von Sobrados dos Monxes, dankbar für den Schutz,
den uns die Herberge für eine Nacht geboten hat,
auch wenn es innerhalb der Klostermauern nachts
ziemlich kalt war. Meine Füße schmerzen noch vom
Vortag und vor uns laufen mehrere uns unbekannte
Pilger. Nach langen Wochen einsamen Wanderns
ist das für uns
ein ungewohnt
bedrängendes
Gefühl. Wir könnten
heute auch schon
nach Santiago
laufen, es ist nicht
mehr weit, aber ich
kann nicht mehr,
ich bin erschöpft,
noch eine 35
Kilometer Etappe
ist einfach nicht
drin. Ich sehne
mich nach einem
14 01/2023 www.experimenta.de 15
Künstlerin des Monats
Künstlerin des Monats
kurzen Tag auf flacher Strecke. Ich laufe mit
dem Finnen, den ich schon seit vielen hundert
Kilometern kenne, durch die schöne galicische
Hügellandschaft. Es fühlt sich an als stünde die Zeit
still. Ekstatisch winkende und laut „Buen Camino“
rufende Spanier fahren an uns mit dem Auto vorbei.
Wir unterhalten uns darüber, wie lange wir schon
unterwegs sind und dass es sich gleichermaßen
länger und kürzer anfühlt als vier Wochen. Einerseits
kommt es uns vor, als wären wir erst gestern in
Irún gestartet. Andererseits haben wir uns so an
das Pilgerleben gewöhnt, dass es sich anfühlt, als
hätten wir nie anders gelebt, als würden wir nichts
anderes kennen, als jeden Morgen den Rucksack
zu packen und loszugehen. Und trotzdem zieht
sich auch heute wieder der Weg. Bald stehen wir
an einer Kreuzung mitten im Wald an einer kleinen
Kapelle mit einem dieser vermoosten galicischen
Wegeskreuze und realisieren, dass wir uns so kurz
vor Santiago brutal verlaufen haben. Auf dem
ganzen Weg habe ich mich kaum verlaufen, jetzt,
nur wenige Kilometer vorm Ziel, lege ich unfreiwillig
noch ein paar Kilometer drauf. Wir haben einfach
eine falsche Abzweigung genommen, wir sind
jetzt auf direktem Weg nach Santiago unterwegs
und mitten im Nirgendwo. Hier gibt es für weitere
20 Kilometer keine Herberge, wir fluchen und
schimpfen und fluchen und fluchen. Aber es
nützt alles nichts, also muss uns Google jetzt auf
direktem Wege, querfeldein, zu unserer Herberge
führen. Die Sonne brennt auf uns nieder, es sind
gefühlte 35 Grad ohne Schatten auf staubigen
Feldwegen in fast unbewohntem, selbstverständlich
hügeligen Gelände. Es ist diese schmerzhafte
Ironie des Lebens, über die man später hoffentlich
lachen kann. Aber auch dieser Tag ist irgendwann
geschafft; und während unsere Wäsche im Wind
flattert und wir Salat und Käse in uns reinschaufeln,
war es am Ende eben doch wieder ein guter Tag.
Am Ostersonntag stehen wir im Morgengrauen
in Labacolla auf und packen in stiller Aufregung
zusammen. Es sind noch zehn Kilometer bis zur
Kathedrale von Santiago. Ich löse mich von den
anderen, dies ist mein Weg und ich möchte ihn
alleine gehen. So früh morgens ist es noch nicht
voll, die meisten anderen Pilger sind gestern in O
Pedrouzo geblieben. Dennoch werden wir immer
mehr, die schweigend in die Stadt ziehen, als
würden wir von einem gigantischen Magneten
angezogen. Es ist bewölkt, aber warm mit einem
leichten Wind, die Vögel zwitschern und die
Stille wird nur vom regelmäßigen Tok-Tok der
Wanderstöcke auf dem Asphalt durchbrochen.
Sieben Kilometer vor Santiago sehe ich die
Engländerinnen wieder, wir haben uns seit zwei
Wochen nicht mehr gesehen. Sie laden mich auf
einen Kaffee ein, aber mich treibt es weiter. Noch
sechseinhalb Kilometer. Tok-tok. Noch sechs
Kilometer. Ich unterdrücke das Bedürfnis, jeden
einzelnen Wegweiser mit Kilometerangabe zu
fotografieren und erreiche endlich Monte de Gozo,
den Berg der Freude. Man hat hier einen Blick auf
Santiago sieht aber die Kathedrale nicht - zu Recht
schreibt der Wanderführer, es sei eine verwirrende
Aussicht. Dennoch ist es ergreifend. Eine Gruppe
Pilger liest eine Geschichte eines "verrückten"
Pilgers, erst auf Spanisch, dann übersetzt. Ich
will eigentlich weiter und gleichzeitig nicht, ich
möchte diesen Moment genießen, das Ziel so nah.
Ich denke, 800 km, und dann fließen die Tränen.
Ja, es war ein langer, harter Weg. Ich weine auch,
weil ich jetzt weiß, dass man nicht vor sich selbst
weglaufen kann, es ist nicht alles einfach wieder
gut, wenn man in Santiago ankommt. Aber besser.
Und vielleicht ist das auch okay so. Mit Tränen in
den Augen überquere ich die Autobahn kurz vor
dem Straßenschild, auf dem in roten Buchstaben
„Santiago“ steht und lasse mich vor dem Schild
fotografieren. Dann geht es weiter. Ich laufe einfach
dem immer dichter und immer schneller werdenden
Strom aus Pilgern hinterher, eine Mischung aus
Anspannung und Vorfreude liegt in der Luft,
Einheimische sitzen in Cafébars und schauen sich
das Spektakel an.
In der Altstadt bei einem Brunnen verlieren sich
die vertrauten Wegweiser plötzlich. Ich zücke mein
Handy und es sind noch 240 Meter. Die letzten 240
Meter von hunderten von Kilometern. Von hinten
komme ich an die Kathedrale, direkt an der heiligen
Pforte stehe ich mitten im Gewimmel tausender
Leute und frage mich verwirrt, ob ich hier richtig
bin. Ich dränge mich durch die Menschenmassen
um eine Ecke, eine lange Menschenschlange
schlängelt sich um das Gebäude. Ich laufe direkt in
die Osterprozession, die in die Messe drängt, kämpfe
mich aber weiter gegen den Strom durch die Massen
und dann endlich, nach 828 Kilometern, unzähligen
Höhenmetern und literweise Tränen und Schweiß,
endlich stehe ich vor der Gloriapforte der Kathedrale
von Santiago. Hier, genau vor der Pforte, treffe ich
die Engländerinnen wieder. Und obwohl wir uns nie
länger als fünf Minuten unterhalten haben, fallen wir
uns hier in die Arme und weinen, weinen gemeinsam
die Tränen vergangener Strapazen und des Glücks,
jetzt sind wir hier, wir haben es geschafft, aber das
heißt gleichzeitig auch, dass es nun vorbei ist. Es ist
ein Höhepunkt und ein Tiefpunkt zugleich, das Ende
und der Anfang eines Weges, denn nach dem Weg
ist vor dem Weg. Und während wir da stehen und
weinen, denke ich an die Zeilen von Hermann Hesse,
die mir vor 15 Jahren erstmals auf dem Jakobsweg
begegnet sind, mit Edding auf einen Stein
geschrieben: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber
inne, der uns berührt und der uns hilft zu leben….“.
Und so beginnt nun der neue Weg, der Camino de
la vida, der Weg des Lebens. Viele Erinnerungen
nehme ich mit, bei jeder Kirchenglocke werde ich
nun an Miguel, den ehemaligen Gastarbeiter denken,
bei jeder Schnecke an den Finnen, und oft an all die
vielen lieben anderen Pilger, die ich traf. All diese
und viel mehr Erinnerungen schließe ich in mein
Herz und nehme sie mit auf meine nächste, lange
Reise.
× Theresa Emily Bouvardien wurde 1985 in Greifswald geboren, wuchs in einem kleinen Dorf in der Nähe von Dresden
auf und studierte später Jura in Heidelberg. Schon immer trieb es sie in die Welt hinaus, mit 16 ging sie das erste Mal ins
Ausland. Sie lebte in Namibia, China, Indien und den USA und betreibt heute den Reiseblog www.dreamtravelstories.
com. Sie lebt und arbeitet in Köln.
16 01/2023 www.experimenta.de 17
Künstlerin des Monats
Künstlerin des Monats
Sandra Eisenbarth
2023 – Das Jahr des Hasen (Chinesisches Horoskop) als Titelmotiv
Sandra Eisenbarth reflektiert in ihren Bildern persönliche, gesellschaftliche und politische Themen.
In der aktuellen Ausgabe der experimenta sind ihre aktuellen Arbeiten, die „Gewohnheitstiere“ zu
sehen. Der „Energiemangelhase“ auf dem Titel ist angelehnt an den Duracell-Hasen und die derzeitige
Energiemangellage. Er muss sich ein wenig ausruhen vom Trommeln, um im Neuen Jahr wieder voller
Energie durchzustarten.
Die Siegburger Künstlerin Sandra Eisenbarth sagt von sich selbst, dass sie sofort malen muss, wenn
sie etwas beschäftigt und ein Bild dann meistens in kürzester Zeit entsteht. Die Wahl ihrer Themen
beginnt bei sehr persönlichen Erfahrungen, dann greift sie zwischenmenschliche Beziehungen auf
und setzt sich ganz aktuell mit politischen Ereignissen auseinander. So ist das Motiv eines in diesem
Jahr entstandenen Acrylbildes eine junge Mutter, die mit ihren beiden kleinen Kindern einen Reigen
tanzt, während sich - schemenhaft in durchgängigem Grau gemalt - ein bewaffneter Soldat den
Dreien nähert. Ein Bild, das für sich spricht und beim Betrachter gleich Assoziationen zum Krieg in der
Ukraine weckt.
In dieser Ausgabe der experimenta zeigt sie karikaturartig vermenschlichte Tiere bei der Hausarbeit,
bei Gewohnheiten, im Märchen oder in gelernten Situationen, die sie „aus einer anderen Blickrichtung“
beleuchtet. Was ist der Mensch „gewohnt“? Auch optisch - Sandra Eisenbarth möchte Gewohnheiten
durchbrechen, Gelerntes in Frage stellen, es zerstören. Technisch nutzt sie dazu unter anderem
Klebestreifen und reißt bereits getrocknete Farbe stellenweise wieder ab, so dass unterschiedliche
Schichten entstehen. Die Werke entstehen in Mischtechnik, teilweise auf LKW-Planen, mit Gold- und
Silber-Spray, Acrylfarbe und Kreide. „Am liebsten male ich mit meinem Neffen Jan, dabei entstehen
lustige gemeinsame Arbeiten, wie die „Weihnachtskuh”, deren Glocken süßer nie klangen.”
× Sandra Eisenbarth , Arielle
Zu malen ist für die Künstlerin eine wichtige Notwendigkeit, sie will „keine Deko für übers Sofa“
schaffen. In ihren Schaffensperioden gab es ihren Zyklus „Unter Umständen“ aus dem Jahr 1995, in
dem sie sich mit den Körpern schwangerer Frauen auseinandersetzt. Im Anschluss daran folgen Werke
aus dem Jahr 1997 unter dem gemeinsamen Titel „Berühren verboten“, die Schaufensterpuppen
als Träger von Emotionen darstellen und in denen die Künstlerin sich kritisch mit den gängigen
Schönheitsidealen unserer Gesellschaft beschäftigt. 2018 griff sie mit „Abschalten“ ein neues Thema
auf, das sich kritisch mit der Social-Media-Nutzung auseinandersetzt. So zeigen die Bilder Menschen,
die „bis zum Identitätsverlust“ in ihrer eigenen Blase leben, ohne reale zwischenmenschliche
Beziehungen zu pflegen und nur noch den Blick auf Handy oder Tablet richten, wie Dr. Elisabeth
Knauer, ihre ehemalige Kunstlehrerin, erklärte. In ihrer „Bitte nicht abschalten – Covid-19-Edition“
vollzieht Sandra Eisenbarth in ihren Bildern eine Kehrtwendung. Sie stellt die Sozialen Netzwerke in
der Pandemie als Ort des Glücks dar, um mit Menschen zu kommunizieren und nicht allein sein zu
müssen. Auch die Serie „Goldene Zeiten – Tanz auf dem Vulkan“ befasst sich mit Corona: tanzende,
in sich versunkene Gestalten, die wissen, dass es nie mehr so sein wird, wie es einmal war. Die
53-jährige Siegburgerin Sandra Eisenbarth hat bewegende Bilder kreiert, die trotz aktuellem Bezug
18 01/2023 www.experimenta.de 19
Künstlerin des Monats
Künstlerin des Monats
zeitlos sind und in denen sich der Betrachter wiederfindet. Das Besondere an ihrer Malweise, bei der sie oft
nur ihre Hände benutzt, ist die skizzenhafte Anmutung der Darstellungen, die zum Teil sogar ins Abstrakte
übergehen und dadurch eine besondere Dynamik entstehen lassen. „Realistisch und detailgetreu zu malen
ist überhaupt keine Option für mich, da kann ich mir auch ein Foto aufhängen“, sagt Sandra Eisenbarth.
Und in der Tat gelingt es ihr in allen Arbeiten, das Wesentliche, das sie transportieren will, auf den Punkt zu
bringen.
Die letzten Ausstellungen:
- 2022 März, Einzelausstellung im Hennefer Rathaus, 27 Jahre Eisenbarth
- 2022 Mai, „revierkunst ruhrgebiet“, LVR Landesmuseum Henrichshütte
- 2022 August, „Maria im Spiegel zeitgenössischer Kunst, evangelische Johannes-Kirchengemeinde in Bad
Godesberg
- 2022 November, „CheapArt Bonn“, fabrik 45
- 2022, Dezember, „Kleiner Kunstraum Am Historischen Rathaus“, Euskirchen
Save the Date – 2023
Die „Gewohnheitstiere“ aus dieser Ausgabe werden Mitte Februar bis Anfang April 2023 im
St.-Johannes-Hospital Dortmund ausgestellt sein.
× Sandra Eisenbarth mit Jan × Sandra Eisenbarth , Schrei nach Liebe
20 01/2023 www.experimenta.de 21
Drei Fragen
Wollsteins Cinemascope
Liebe Leserinnen und Leser,
wir haben die Sommerpause geenutzt, um eine Leserinnen- und Leserbefragung durchzuführen.
Wir wollten wissen, was Ihnen an der experimenta gefällt und was Sie gerne verändern möchten.
Die Rückmeldungen waren u m w e r f e n d! Wir werden ab dieser Ausgabe jeweils eine Auswahl
Ihrer Antworten veröffentlichen.
Folgende Fragen haben wir gestellt:
Erste Frage: Wie finden Sie die experimenta?
Zweite Frage: Was sagen Sie zu unseren Themen?
Dritte Frage: Welche Wünsche und Ideen haben Sie?
Erste Frage: Das Magazin ist sehr ansprechend gestaltet. Sehr gelungen ist auch die Verbindung von
Text- und Bildkunst.
Zweite Frage: Auch die Themenauswahl weckt Neugierde, lädt zum Lesen und reflektieren ein. Ebenso
finde ich die Mischung verschiedener Textsorten wie etwa Prosa/Essays, Lyrik, Aphorismen sehr
gelungen. Die Kurzinfos zu den jeweiligen Künstlerinnen und Künstler runden die Beiträge ab.
Dritte Frage: Zum Jahresende oder in anderen (längeren) Abständen ein "best of" (in kurzen
Auszügen mit Hinweis auf jeweilige experimenta-Ausgabe), jeweils von einer oder mehreren Kategorien
(Bild und/oder Prosa, Essay, Gedicht, Aphorismus-Reihe usw.)
Mit freundlichen Grüßen
Christian Baudy,Hamburg
Erste Frage: Ich finde experimenta immer wieder spannend und bereichernd. Es füllt eine weitgehende
künstlerische Lücke in unserer Medienlandschaft.
Zweite Frage: Die Themen dürfen gerne noch erweitert werden, so dass ein anspruchsvolles
Kunstmagazin daraus entsteht.
Dritte Frage: Ich wünsche mir, dass experimenta noch viel bekannter werden möge.
Ekkehard Walter aus Jestetten
Wollsteins Cinemascope
White Noise
Kinostart: 08.12.2022
auf Netflix ab 30.12.2022
Schön verrückt, dachte ich, als ich aus der über zweistündigen Pressevorführung
heraus kam. Der Film „White Noise“, Regie und Drehbuch von Noah Baumbach nach
der Romanvorlage von Don DeLillo von 1985, fängt schon mit einem Knalleffekt
an. Professor Murray Siskind (Don Cheadle) führt seinen Studenten einen Zusammenschnitt von
Hollywood-Filmszenen vor, die spektakuläre Unfälle zeigen, eine Orgie von Zusammenstößen, sich
überschlagenden Fahrzeugen, splitterndem Glas, krachendem Blech, Explosionen. Seine überraschende
Interpretation: Diese Bilder sind grandios und lebensbejahend, niemand filmt Derartiges so gut wie
die Amerikaner. Damit ist ein Thema des Films vorgegeben: Untergangsstimmung und trotzdem
weitermachen. Das kommt einem heutzutage bekannt vor.
Ähnlich widersprüchlich ist alles in diesem Film, was manche nerven wird, wovon man
sich aber auch immer wieder mit Vergnügen überraschen lassen kann. Die Hauptfigur, Professor Jack
Gladny (Adam Driver, wie immer in Bestform), ist ein Kollege von Murray im fiktiven College-On-The-Hill.
Sein Fachgebiet ist Hitler, und seine Studenten und die anderen Professoren feiern ihn als den Größten,
obwohl er nicht mal deutsch kann. Mit Murray, dessen Spezialgebiet Elvis ist, hält er eine Vorlesung über
diese beiden „Muttersöhne“, die ernsthaft verglichen werden.
Jack ist mit Babette (Greta Gerwig) verheiratet, für beide ist es die vierte Ehe, und sie
haben vier Kinder: meine, deins und unseres. Obwohl sie sich um nichts Sorgen machen müssten,
denken die Beiden oft an den Tod. Wer wird zuerst sterben, und wie bald? Gegen die Angst nimmt
Babette geheimnisvolle Tabletten, von denen nicht mal ihr Arzt je etwas gehört hat.
Im zweiten Teil passiert etwas: Ein Tanklastzug stößt mit einem Zug zusammen, es gibt
eine Explosion, und eine dunkle, möglicherweise giftige Wolke breitet sich über die Gegend aus. Die
Medien sehen keine Gefahr, auch Jack beruhigt seine Familie mit rationalen Argumenten. Dann heißt
es auf einmal doch: Alle raus, Evakuierung! Die Folge sind endlose Staus auf den Straßen. Zwischen
Panik und fröhlicher Gelassenheit sind alle Gefühlzustände bei den ausgebremsten Flüchtenden zu
beobachten. Jacks Tochter möchte wissen, wieviel Angst sie haben sollte. Nach einigen absurden
Abenteuern landet die Familie in einem Zeltlager und von da wieder daheim, ohne dass das tatsächliche
Ausmaß der Gefahr bekannt wird. Das Alltagsleben erhält, wie schon zuvor, immer wieder Highlights
durchs Einkaufen in einem riesigen Supermarkt. Konsum ist ein Ritual und gibt Sinn, ist die Bühne für
Begegnungen, was im Abspann mit einer Musical-Einlage gefeiert wird.
Der dritte Teil macht noch einmal ein ganz anderes Fass auf. Lars Eidinger gibt Babettes
abgewrackten Dealer von Psychopharmaka, Barbara Sukowa eine desillusionierte Nonne, die aufgehört
hat „für die anderen zu glauben“, wie sie sagt. Trotz Schießerei und Verletzten wird am Ende irgendwie
alles gut. „We keep inventing hope“ heißt es einmal.
Der Film ist eine kluge, entlarvende und verspielte Satire über die teils irrationalen Ängste
der gehobenen Mittelschicht in den USA, über die Desinformation in den Medien und über den scheinbar
alle Probleme lösenden Konsum. Dabei sind die Dialoge äußerst geschliffen und geistvoll, die leicht
surrealen Bilder perfekt. Insgesamt: Unterhaltung auf hohem Niveau.
Barbara Wollstein
22 01/2023 www.experimenta.de 23
Disibodenberger Schnipsel: Freiheit
Semiar
Disibodenberger Schnipsel: Die Werte der experimenta
Schreibcoaching mit Rüdiger Heins
experimenta ist eine junge, leidenschaftliche Multikünstlerin, die auf allen Hochzeiten der Muse tanzt
und dabei Menschen glücklich macht - und sie ist eine Frau mit starken Werten. Einer ihrer zentralen
Werte ist Freiheit, die sie verbunden mit Pluralismus und Toleranz versteht.
Lesen Sie dazu unsere neue Rubrik, die „Disibodenberger Schnipsel“. Hier tragen wir aus der Redaktion
Gedanken zusammen zu einer Collage, die sich Brüche und Lehrstellen erlaubt und damit alle
Leserinnen und Leser zum Weiterdenken einlädt.
Durch Liebe entsteht Freiheit.
Liebe macht frei.
Liebe lässt Grenzen fallen, ohne übergriffig zu sein. Toleranz, Achtung, Respekt.
Raum nehmen, Raum geben.
IN LIEBE
Gabriele Glaser
Im Dialog zeigt sich Freiheit im Wertschätzen unterschiedlicher Standpunkte.
Nora Hille
Individuelle Freiheit endet da, wo sie die Freiheit des anderen verletzt oder die Gesetze der Demokratie
sprengt - und damit die des Pluralismus.
Erich Pfefferlen
Liebe- und respektvolles Miteinander im Sein.
Katharina Dobrick
Freiheit und Vertrauen sind Geschwister, deren Eltern geschieden sind. Manchmal lassen sie sich
beeinflussen und das Vertrauen schwindet. Schade!
Barbara Rossi
Sie haben eine gute Idee für ein Buchprojekt. Ihre Recherchen laufen hervorragend
und Ihr Wissen zum Thema ist komplett vorhanden.
Nur: Sie können all Ihr Wissen und Ihre Erfahrung nicht zu Papier bringen.
Jetzt hilft nur noch Coaching, damit Ihr Schreiben wieder in den Fluss kommt!
Dabei kann ich Ihnen behilflich sein. Im Tagesseminar, eingebunden in eine kleine
Gruppe, können Sie Techniken erlernen, die Sie wieder zum Schreiben führen.
Sie können sich einen oder mehrere Termine aussuchen. Pro Seminartag beträgt die
Gebühr 120 €
07.01.2023
04.02.2023
04.03.2023
Für weitere Fragen stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung: 06721-921060
Herzliche Grüße
Rüdiger Heins
Niedermühle in Odernheim
Am Disibodenberg
55571 Odernheim
Freiheit ist nur ein anderes Wort für „In Liebe geschehen lassen!”
Rüdiger Heins
24 01/2023 www.experimenta.de 25
Holocaust-Gedenktag
Holocaust-Gedenktag
Nora Hille
Der Blinde Fleck
Ein Text anlässlich des Internationalen Holocaust-Gedenktags am 27. Januar 2023
Können wir unsere Welt einteilen in Quadrate, drei
mal drei Meter groß? So wie die App „What Three
Words“1 jedem Ort der Welt ein Quadrat dieser Größe
zuweist und es um eine 3-Wort-Adresse ergänzt?
Sprechen sie zu uns? Was verstehen wir?
jetziger.gedrängt.abermals.
krise.streben.organen.
mitautor.abgrund.sandberg.
unterste.endeten.mittags.
allseitige.schmetterling.kurz.
vorsicht.ordneten.endrunde.
[ATEMPAUSE]
Alle diese 3-Wort-Adressen beziehen sich auf das
Gelände eines Dorfes. Eines kleinen polnischen
Dorfes, dessen Bewohner vertrieben wurden. Eines
Dorfes, das ermordet wurde und geschändet.
What? Three? Words?
FUCK!
There is NO word
to describe what happend there.
So many human beings.
So many suffering souls.
Such a horrible German guilt.
Alle diese 3-Wort-Adressen reden von einem Dorf,
dessen Äcker und Felder selbst zum Mordplatz
wurden: Brzezinka, auf Deutsch Birkenau.
[…]
Sie schweben in der Luft, diese seltsamen
Flocken, die so leicht sind, dass sie mehr tanzen
denn zu Boden fallen, ein schwereloses Hin- und
Herwiegen, Wogen, ähnlich den Meereswellen an
einem menschenleeren Strand - was ist ihr Ziel, wo
wollen sie hinabsinken, was waren sie einst, diese
Flocken, so andauernd, so immer da - Flocken,
sie schweben, ein Bild, dessen Eindringen in die
Seele verweigert wird durch Unkenntnis, durch
ein Nicht-sehen-Wollen, und doch ein Gedanken-
Zipfel: Die Welt ändert sich durch mich, durch das,
was ich sehe, was ich nicht sehen will und ebenso
durch das, was mir verborgen bleibt ... ach, könnte
ich doch nur für immer hinaufblicken in einen
blauen, wolkenlosen Himmel, frei von allem, was
da schweben könnte, frei von diesen Flocken, die
mich immer wieder herausfordern, mich erinnern an
etwas, das ich selbst nicht miterlebt habe und was
doch so präsent ist, weil es präsent sein muss, weil
wir niemals vergessen dürfen - lass ihn nicht enden
diesen einen Satz, dessen Struktur ich überdrüssig
bin, wie ich auch manchmal der Worte überdrüssig
bin, wenn es so schwer ist, die passenden zu finden,
die unter die Haut gehen, sich einbrennen in unsere
Seele - oh, welch züngelnde Flammen, was für
ein gewaltiges Feuer, denke ich - und jetzt, wo ich
in dieses rotglühende, zuckende Ich-weiß-nicht-
Was starre, all das vor meinem inneren Auge, die
sengende Hitze spüre auf meiner Haut, frage ich
mich: Sind sie das, die Öfen, in denen Menschen
verbrannten, nachdem sie in Gaskammern
erstickten, so grausam ermordet von meinem
Heimatland?
1 What3words ist eine international verfügbare App für IOS und Adroid, die die Welt in 3 mal 3 Meter große Quadrate aufteilt und für jedes Quadrat eine
individuelle 3-Wort-Adresse erzeugt. So erhält man einfache und präzise Adressangaben weltweit, auch für Orte wie große Parks, Wüsten oder Meere,
für die keine postalischen Adressen existieren. Siehe https://what3words.com/de/about (Zugriff: 10. November 2022).
[…]
Wo endet das Dorf für dich?
Wo endet das Vertraute?
Und wo beginnt sie, die Fremde?
Manchmal ist die Berührung so nah und eng, dass
sie keine Grenze mehr markiert, weil aus ihr eine
Überlappung entsteht: Um 1900 leben im polnischen
Dorf Brzezinka, auf Deutsch Birkenau, rund 2.000
Bewohner in 230 Häusern. Die große Mehrheit ist
römisch-katholisch und polnischsprachig.2
Schon kurz nach dem deutschen Überfall auf die
Zweite Polnische Republik (Beginn 2. Weltkrieg) kam
das westliche Polen – und damit auch Birkenau und
Auschwitz (Oświęcim) - ab dem 28. September 1939
unter deutsche Besatzung.3
Schon vor dem 2. Weltkrieg befanden sich am
Westrand von Auschwitz gemauerte Häuser und
Holzbaracken als Unterkünfte für Saison- und
Wanderarbeiter. Diese Gebäude werden von den
Nationalsozialisten übernommen und bilden ab 1940
die Ausgangslage für das Stammlager Auschwitz I.
Ab 1941 lassen die Nationalsozialisten dann Birkenau
komplett räumen. Auf den landwirtschaftlichen
Flächen rund um den früheren Dorfkern entsteht
das Vernichtungslager Birkenau, genannt
Auschwitz II, mit seiner Tötungsmaschinerie und
Entmenschlichung.4 Mit zunächst 100.000 Insassen,
später der doppelten Anzahl, bekommt es die
Ausmaße einer Stadt.
1,3 Millionen Menschen werden im 2. Weltkrieg in das
KZ Auschwitz-Birkenau deportiert. Mehr als 1,1
Millionen von ihnen kommen hier grausam ums
Leben.5
[…]
Ein Junge liegt in seinem Bett, in seinem
unvertrauten Kinderzimmer. Durch die
geschlossenen orangen Vorhänge fällt Sonnenlicht
herein. Malt tanzende Flecken auf den Boden, an die
Wand, von der Putz herabfällt. Sein fieberwunder
Blick wandert durch das Zimmer. Bleibt gegenüber
an einem Poster hängen. Man sieht noch die
Knicke, wo es gefaltet war. Einziger Wandschmuck
bislang, denn sie sind gerade erst eingezogen.
Herausgetrieben aus ihrem Dorf, hinein in die Stadt,
in diese tristen Mauern. Der Junge ist fünf Jahre
alt, seine Schwestern sind älter. Er betrachtet
die drei Schimpansen auf dem Bild. Sie sitzen
nebeneinander auf halbverdorrtem Rasen. Der linke
Affe hält sich die Ohren zu, der mittlere die Augen,
der rechte seinen Mund. Nichts hören, nichts sehen,
nichts sagen.
Der Junge schläft wieder ein, er träumt. Träumt
sich zurück in sein Dorf, auf den Bauernhof der
Großeltern. Aber alles sieht so anders aus als sonst.
Grau und grobkörnig. Wie in dem Schwarz-Weiß-
Film, den er mit seinen Schwestern im Kino sehen
durfte, hier in der Stadt. „Junge, komm!“ Seine
Großmutter ruft nach ihm. Sie steht in der Stalltür,
den Besen in der Hand.
[…]
Dicke Flocken in der Luft. Sie schweben. Überall
diese Flocken, die so langsam zur Erde sinken.
Keines der Dorfkinder will sie mit der Zunge
auffangen. Ich auch nicht. Sie schmelzen nicht.
Großmutter ruft mir zu, dass ich den Hof fegen soll.
Ich fege. Immer wieder wirbele ich sie dabei auf, die
Flocken. Sie bleiben einfach nicht liegen. Sind zu
leicht. Endlich habe ich es geschafft. Ein Haufen,
gleich neben dem Gemüsebeet. Ich gehe zur
Pumpe und nehme die Gießkanne. Sie ist so schwer.
Ich schleppe sie über den Hof, Wasser schwappt
heraus, direkt auf meine Füße. Dann durchfeuchte
2 Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Brzezinka_(O%C5%9Bwi%C4%99cim)
(Zugriff: 8.Dezember 2022).
3 Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Besetzung_Polens_1939%E2%80%931945
(Zugriff: 8.Dezember 2022).
4 Wikipedia-Zitat: „Birkenau war während des Zweiten Weltkrieges Standort des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau.“ Quelle: https://de.wikipedia.
org/wiki/Brzezinka_(O%C5%9Bwi%C4%99cim) (Zugriff: 8.Dezember 2022).
5 Quellen: Vgl. https://auschwitzundich.ard.de/erinnern-an-auschwitz/Geschichte-einer-Todesfabrik/ und https://de.wikipedia.org/wiki/KZ_
Auschwitz (8.Dezember 2022).
26 01/2023 www.experimenta.de 27
Holocaust-Gedenktag
Holocaust-Gedenktag
ich den weißgrauen Hügel, damit die Flocken
Ich spüre sie, die brennenden Tränen hinter meinen
[…]
die ich nutze. Ist es Zufall oder ein Facebook-
endlich liegenbleiben. Sie verwandeln sich in einen
Augenlidern. Noch sind sie ungeweint. Aber es
Algorithmus, der mich und meine Gewohnheiten
matschigen Brei.
werden mehr. Stehe an einer Schwelle, kurz vor
Eine exakte Gesamtzahl aller Toten des 2. Weltkriegs
kennt? Jedenfalls steht er da, dieser Post anlässlich
der Flut. So schwer, eine Sprache zu finden für
lässt sich nicht ermitteln, es wird aber von weltweit
des Internationalen Gedenktags an die Opfer des
[…]
das, was mich immer wieder sprachlos macht. Die
über 60 Millionen Toten ausgegangen.7 Unfassbar
Holocaust am 27. Januar. Flimmert auf dem Handy-
Vergangenheit meines Heimatlandes. Die Zeit, in
hoch die Gesamtzahlen der Toten der Sowjetunion
Bildschirm meinen müden Augen entgegen, zu
Wo endet das Dorf für dich?
der meine Eltern Kinder waren. Die Zeit, in der so
mit 24 Millionen und Chinas mit 20 Millionen. Auf
einem Zeitpunkt, an dem ich seit einer Woche an
Wo endet das Vertraute?
viele Menschen gelitten haben. Verfolgt wurden.
deutscher Seite starben 5,53 Millionen Soldaten
diesem Text hier schreibe. Ich lese. Die Gedenkstätte
Und wo beginnt sie, die Fremde?
Gequält und ermordet. Die Schlagworte vorhin –
und 2,2 Millionen Zivilisten.8 Das sind so viel mehr
Yad Vashem bietet mit der „IRemember Wall“ die
ein Kritiker nannte sie Phrasen - sind dem Grauen
Tote als ich mit bloßem Auge des Nachts Sterne am
Möglichkeit zum persönlichen Gedenken: Der eigene
[…]
nahegekommen. Näher als es mir als Nachfahrin
Himmel erblicken kann.
Name wird mit dem eines Holocaustopfers zufällig
dieser Zeit sonst gelingt. Immer wieder einmal spüre
verknüpft, wenn vorhanden auch mit dessen Foto.9
Hunger.
ich sie, die Herausforderung und zugleich Bürde,
SO. VIELE. TOTE. MENSCHEN.
Es ist, als hätte meine Seele darauf gewartet. Kein
Kälte.
dass es meine Pflicht ist, nach Worten zu suchen.
SO. UNFASSBAR. VIELE. TOTE. MENSCHEN.
Zögern. Keine Bedenken. Keine Angst. Stattdessen
Stacheldraht.
Nach ihnen zu tasten. Mich an das Unaussprechliche
SO. VIELE. SINNLOSE. TODE.
eine Begegnung. Von Mensch zu Mensch.
Elend.
heranzuwagen. Weil es eben nicht vergessen
SO. UNERMESSLICHES. LEID.
Eine zufällige Berührung durch die Zeit, durch
Baracken.
werden darf. Weil es sich nicht wiederholen darf.
Jahrhunderte. Getrennt und nun vereint.
Krätze.
Niemals.
[…]
Thypus.
I Remember
Arbeit macht frei.
[…]
„Schneid mich doch auf!“, schreit sie. „Sieh‘ in
Paulina Weichselbaum,
Macht Arbeit frei?
mich hinein! Was findest du? Eine Leber, eine Milz,
geborene Grinbaum,
Zynismus.
6 Millionen ermordete Juden.
zwei Nieren. Ein pulsierendes Herz. Schau hin!
ich gedenke Deiner.
Gewalt.
250.000 Menschen mit Behinderung.
Genau wie bei dir. Wir sind gleich. Innen drin sind
Du - Mensch wie ich.
Folter.
250.000 Sinti und Roma.
wir gleich. Niemand ist besser als der andere. Wir
Du - Frau wie ich.
Missbrauch.
70.000 angeblich Kriminelle und Asoziale.
alle haben einen Körper, eine Seele. Wir haben
Du - Mutter wie ich.
Erschöpfung.
1.900 Zeugen Jehovas.
viel mehr gemeinsam als uns trennt. Schau doch
Dein schlagendes, atmendes Herz.
Gaskammern.
Ermordet.
hin. Bitte. Schau hin ...“ Ihre Schultern zittern, die
Geboren 1864 in Adelsberg,
Angstschweiß.
Von den Nationalsozialsten.
Stimme bricht weg. Tränen rinnen über ihr Gesicht,
Deutsches Reich.
Tod.
7 Millionen sowjetische Zivilisten.
verschmieren zusammen mit dem heißen Rotz die
I Remember
Versündigung.
3 Millionen sowjetische Kriegsgefangene.
Wimperntusche, als sie sich mit dem Pullover-Ärmel
Die Öfen ...
1,8 Millionen polnische Zivilisten.
über die Augen wischt.
Aus einem Foto blickst Du mir entgegen.
... der Rauch ...
312.000 serbische Zivilisten.
Schwarz und weiß Dein Gesicht,
Asche in der Luft.
Insgesamt 18,7 Millionen
[…]
grau die Haut und ernst die Augen.
Täter.
unmittelbar von den Nationalsozialisten
Dunkel Dein Kleid, das vorn geknöpfte
Opfer.
ermordete Menschen.6
Ich trage sie in mir, meine eigene kleine Welt. Wie
mit einem Spitzeneinsatz im Ausschnitt,
Menschenleben.
Tot, alle tot.
auch die große, die ich mit meinen Sinnen erfahre,
der sich anschmiegt an Deinen Hals.
So viele
Aus Schuld
täglich erlebe und versuche, sie mir mit meinem
Sich anschmiegt an Deine Haut,
Menschenleben.
erwächst
Denken und Schreiben anzueignen. In deren
unter der Leben pulsiert.
Verantwortung.
Begreifen immer wieder auch die Medien einfließen,
Lehrerin warst Du.
6 Zitiert wird Weidenbach, Bernhard: „Die Nationalsozialisten ermordeten während ihrer Herrschaftszeit von 1933 bis 1945 mehrere Millionen Menschen.
[…] Die durch staatlichen Antisemitismus vorangetriebene Ideologie der Nationalsozialisten sah die Vernichtungen von ,lebensunwertem Leben‘ vor.
,Unwerte‘ Völker sollten getilgt werden, um den ,arischen‘ Rassen an deren Stelle ein Leben zu ermöglichen. Das erklärte Ziel des NS-Regimes war
die vollkommene Auslöschung des jüdischen Volkes und anderer Minderheiten wie Sinti und Roma sowie Homosexuelle.“ In: Weidenbach, Bernhard:
„Opferzahlen der durch das nationalsozialistische Regime und seiner Verbündeten von 1933 bis 1945 ermordeten Zivilisten und Kriegsgefangenen.“
Online veröffentlicht 2019 unter statista.com. Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1110101/umfrage/gesamtanzahl-dernationalsozialistischen-opfer/
(Zugriff: 8. Dezember 2022).
7 Quelle: HanisauLand – Politik für Dich. Online-Beitrag „Opfer des Krieges“, Hrg.: Bundeszentrale für politische Bildung. https://www.hanisauland.de/
node/113801 (Zugriff: 8. Dezember 2022).
8 Weidenbach, Bernhard: „Zahl der Toten nach Staaten im Zweiten Weltkrieg in den Jahren 1939* bis 1945.“ Auf die Sowjetunion entfallen 24 Millionen
(9,75 Millionen Soldaten/14,25 Millionen Zivilisten) und auf Chinas 20 Millionen (3,5 Millionen Soldaten/16,5 Millionen Zivilisten). Online veröffentlicht
2022 unter statista.com. Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1055110/umfrage/zahl-der-toten-nach-staaten-im-zweitenweltkrieg/
(Zugriff: 8. Dezember 2022).
9 https://iremember.yadvashem.org/?p=1743 (Zugriff: 10. November 2022).
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Künstlerin des Monats
Holocaust-Gedenktag
× Sandra Eisenbarth
Verbunden mit Deinen Schülern,
Verbunden mit Familie und Freunden.
Verbunden mit der Welt.
I Remember
Paulina, Frau Du,
in der Shoah ermordet
so bezeugt es Dein Enkel
- ermordet -
irgendwann zwischen 1933 bis 1945,
69 bis 81 Jahre alt.
Ermordet in Deinem Heimatland
und dem meinen,
das kein Schutzort mehr war
weder für Dich,
noch für die Deinen.
I Remember
Paulina, Lehrerin und Mutter Du.
Mensch wie ich.
So gedenke ich Deiner,
damit Du nicht vergessen bist
und dieses Leid, dieser Schmerz,
dieses unsägliche Verbrechen
an Dir und den Deinen.
Paulina,
ich gedenke Deiner,
damit sie nicht vergessen sind:
All die Stunden,
in denen Du geatmet hast und gelacht,
in denen Du geliebt hast.
In denen stumme Verzweiflung
in Dir wohnte und solche Angst.
All die Tage, Wochen, Jahre,
in denen Du Kind warst,
Heranwachsende, Mutter und Frau,
Ein Mensch
mit ganz alltäglichen Sorgen und Nöten.
Ein Mensch
mit Sehnsüchten und Träumen.
Paulina Weichselbaum,
ich gedenke Deiner,
spüre Dein schlagendes, atmendes Herz.
Wie lebendig Du bist
für mich
in diesem Moment,
der uns vereint
und unsere Namen.
[…]
Einladung zur Schweigeminute für
Paulina Weichselbaum
[…]
So viele Themen profitieren von unterschiedlichen
Standpunkten. Aber bei der Frage nach der Würde
des Menschen, nach unser aller Gleichheit, da sollte
es eine gemeinsame Antwort geben, getragen vom
Respekt füreinander. Ich zumindest wünsche sie mir,
diese gemeinsame humanistische Antwort, dieses
Füreinander-Einstehen. Geprägt von Interesse,
Offenheit, Mitgefühl und Toleranz. „Sieh‘ in mich
hinein! Da ist ein pulsierendes Herz. Wir sind gleich.
Innen drin sind wir gleich. Niemand ist besser als der
andere. Schau doch hin - bitte.“
[…]
Da sind sie wieder. So zart. Weiß, hellgrau. Sie
schweben. Reißen den Blick empor ihnen zu folgen.
Erinnern an ein Einst-Einmal, an Vergangenes. An
Menschen, so lebendig zuvor. Blutdurchströmt,
atmend, um ihr Leben ringend, in dieser
unermesslichen Not. Voller Menschlichkeit und
Gefühl an einem Ort der Entmenschlichung, der
Gnadenlosigkeit, der unsäglichen Qual. Die Flocken
und ihr Tanz in den Lüften.
[…]
Wo endet das Dorf für dich?
Wo endet das Vertraute?
Und wo beginnt sie, die Fremde?
[…]
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Holocaust-Gedenktag
Holocaust-Gedenktag
Im Dorf kannte früher jeder jeden. Man grüßte sich
- oder auch nicht, redete miteinander und gern
übereinander. Auch heute noch sind die Bindungen
im Dorf häufig enger. In der Stadt dagegen lassen
sich Beziehungen freier gestalten, aber genauso
gut kann man in der Anonymität verloren gehen. Wo
liegt deine Welt? Wovon lässt du dich berühren?
[…]
Welt, du schöne, einzige.
Will an dich glauben,
meine Welt, du bedrohte.
Will dich und deine Wunder schützen.
Will das Leben lieben,
die Natur, die Menschen.
Welt, du schöne, einzige,
du wunderbare.
Will dich meinen Kindern zeigen,
all deine Dörfer und Städte,
Felder, Flüsse, Wüsten und Ozeane.
All deine Pflanzen und Tiere.
Will meinen Kindern deine Wunder zeigen
wie auch deine Wundmale und Narben.
Möchte meinen Kindern
Liebe lehren zum Leben.
Mitmenschlichkeit und Güte.
Toleranz und Respekt.
Die Sehnsucht nach Frieden.
Will Hoffnung schenken.
Du schöne, einzige Welt.
Unsere Welt.
[…]
Der reife Weizen am Rand des Dorfes steht hoch.
Bald schon ist Erntezeit. Zeit, aufs Feld zu fahren.
Korn um Korn die Ernte einbringen. Golden blond ist
er wie das Haar Margaretes, der Weizen. Mein Blick
wandert über die Pracht und Fülle der Natur, liebkost
den Wildblumenstreifen am Rand des Ackers.
Blau leuchten mir Kornblumen entgegen, rot der
Mohn, orange die Ringelblumen, gelb der Steinklee.
Dazwischen stolz und königlich Brennnesseln,
gekrönt mit den weißen Dolden von Scharfgarbe,
Giersch und Wiesenkerbel. Zitronenfalter und
Admirale tanzen von Blüte zu Blüte. Tief inhaliere ich
den würzigen Duft des Wildthymians. Lausche dem
Summen der Bienen und Hummeln. Die früheren
Bewohner von Brzezinka kannten dieselben
Pflanzen und Bäume wie die dort später so
unvorstellbar gequälten und ermordeten Menschen.
Die strahlend bunte Pracht konfrontiert mich wieder
mit meinen dunklen Gedanken. Mit einer vagen
Vorstellung des Grauens, das sich vor Jahrzehnten
vor und während des 2. Weltkriegs ereignet hat, hier
in meiner Heimat Deutschland und in den von den
Nationalsozialisten besetzten und angegriffenen
Ländern. Dieses unermessliche Leid. Diese
unermessliche Schuld. Pflicht-Lernstoff 9. und 10.
Klasse. Vom Hirn ins Herz? Immerhin: eine Hoffnung.
[…]
Da sind sie wieder. Die Flocken. Schweben in der
Luft. Dieser weiß-graue Schnee, der kein Schnee
ist. Die Flocken suchen es, ihr „Grab in den Lüften“.
Ich denke an diese Worte eines anderen, der so
viel des Unaussprechlichen in seine Todesfuge
hineingeflochten hat, in goldenes und aschfarbenes
Haar. 10
[…]
Ende 1944 vergräbt ein griechisch-jüdischer
Häftling namens Marcel Nadjari seine geheimen
Aufzeichnungen in der Nähe des Krematoriums III
auf dem Gelände von Auschwitz, versteckt in einer
Thermosflasche. 1980 finden Ausgrabungsarbeiten
statt, bei denen ein Student die Nachricht aus
der Vergangenheit entdeckt. 11 Nadjari wurde von
den Nationalsozialisten dem Sonderkommando
zugeordnet und musste unmittelbar bei den
Krematorien arbeiten. So lauten seine Worte:
„Nach einer halben Stunde öffneten wir die Türen
[der Gaskammer, Anm. N. Hille] und unsere Arbeit
begann. Wir trugen die Leichen dieser unschuldigen
Frauen und Kinder zum Aufzug, der sie in den Raum
mit den Öfen beförderte, wo sie verbrannten ohne
Zuhilfenahme von Brennmaterial aufgrund des
Fetts, das sie haben. – Ein Mensch ergab nur etwa
ein halbes Okka 12 Asche […], die uns die Deutschen
zu zerkleinern zwangen, um sie dann durch ein
grobes Sieb zu pressen, und danach holte es ein
Auto ab und schüttete es in den Fluss Vistula, der
in der Nähe vorbeifließt, und so beseitigen sie alle
Spuren. Die Dramen, die meine Augen gesehen
haben, sind unbeschreiblich.“ 13
[…]
Für heute will ich zurück in mein Dorf. Dahin, wo
jeder jeden kennt. Will sie nicht haben, diese Welt,
die oft so schmerzvoll ist. Aber eben auch so voller
Wunder, dass wir immer wieder ihren Ruf vernehmen
und ihm folgen.
Ich lausche. Öffne meine Ohren. Öffne mein Herz.
Warte.
Erst hören, erst verstehen wollen.
Dann wieder dieses Tasten. Als wäre ich blind.
Sie beginnt erneut, die Suche.
Nach den Worten für das Unaussprechliche.
Du bist.
Ich bin.
Sie waren.
Sie, die ermordet wurden.
Von den Nationalsozialisten.
Sie, die nicht vergessen sind,
die ich nie vergessen will,
nicht ihr Leben,
nicht ihr Leid.
Sie sind.
Für immer.
Sie sind.
× Nora Hille, Jahrgang 1975, verheiratet, zwei Kinder. Studium
Geschichte, Literatur- und Medienwissenschaften, journalistisches
Schreiben im Nebenjob. 12 Jahre Arbeit im Bereich Kommunikation/
PR. Aus gesundheitlichen Gründen verrentet. Schreibt als Betroffene
und Erfahrungsexpertin zu den Themen Mentale Gesundheit,
psychische Erkrankungen und engagiert sich für die Anti-Stigma-
Arbeit, also gegen die Stigmatisierung (Ausgrenzung) psychisch
Kranker in unserer Gesellschaft, für mehr Miteinander und
Toleranz. Regelmäße Kolumne zu Mental Health beim Online-
Magazin FemalExperts.com. Außerdem verfasst sie literarische
Essays, Gedichte und Kurzprosa. Siehe auch www.norahille.de oder
Instagram: norahille_autorin.
10 Der deutschsprachige Lyriker Paul Celan verfasste zwischen 1944 und Anfang 1945 die „Todesfuge“. Sie erschien zunächst in rumänischer
Übersetzung im Mai 1947, 1948 dann auf Deutsch. Quelle: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Todesfuge (Zugriff: 8. Dezember 2022)
11 Zum Zeitpunkt des Fundes von Nadjaris Notizen waren nur 10 bis 15 Prozent des stark beschädigten griechischen Textes lesbar. Erst 2017 war es
möglich, 85 bis 90 Prozent zu rekonstruieren und zu übersetzen. Siehe Breitenbach, Dagmar: „Auschwitz: Texte von unvorstellbarem Leid“. Online
veröffentlicht am 11. Oktober 2017. Quelle: https://m.dw.com/de/auschwitz-texte-von-unvorstellbarem-leid/a-40904025
(Zugriff: : 8. Dezember 2022).
12 Griechisches Gewichtsmaß der osmanischen Zeit, ein halbes Okka entspricht 640 Gramm. Siehe Fußnote 45 im Text von Polian, Pavel: „Das
Ungelesene lesen. Die Aufzeichnungen von Marcel Nadjari, Mitglied des jüdischen Sonderkommandos von Ausschwitz-Birkenau, und ihre Erschließung.“
In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 65. Jahrgang, Heft 4, Oktober 2017,
S. 596-618, S. 612.
13 A.a.O.
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Künstlerin des Monats
Interview
„Die Menschen sorgen sich um Familie und Wohlstand“
Anne Mai im Gespräch mit Rüdiger Heins über ihren Roman
PFAUENSCHREIE IN TREVERIS
experimenta_ Wie bist Du zu Deinem Romanthema gekommen?
Anne Mai_ Bei einer Wanderung entdeckte ich den Ausoniusweg und in Trier die
Ausoniusstraße. Ich interessierte mich schon länger für die römische
Kultur in Deutschland und war auf der Suche nach einem diesbezüglichen
Romanprojekt.
Recherchen ergaben, dass es sich bei Ausonius um einen Rhetor und
Dichter aus Bordeaux handelte, der 368 n. Chr. nach Trier kam. Dort
fungierte er als Erzieher von Kronprinz Gratian und machte gleichzeitig
politische Karriere bis zur Konsulwürde. Ausonius verfasste 371 n. Chr.
die Versdichtung „Mosella“, welche heute als literarisches Denkmal der
Moselregion gilt und als älteste Reisebeschreibung einer deutschen
Landschaft. Damals wurde Trier „Treveris“ oder „Rom des Nordens“
genannt und war die Residenz des römischen Kaisers, eine glanzvolle
Metropole, eine Stadt der Verheißung. Mein Thema war gefunden. Ich
entschied mich für die letzten Regierungsjahre Kaiser Gratians von 380
bis 383.
experimenta_ In Deinem Roman spielt der Dichter Ausonius eine wichtige Rolle. Wie
hast Du die Handlungsstränge gebaut?
Anne Mai_ Der Plot erforderte wegen der Datenmenge viel Sorgfalt. Die Handlung
sollte sich nach geschichtlichen Daten richten und Informationen über
diese Zeit eines gesellschaftlichen Umbruchs einfließen lassen. Ich
widmete die jeweiligen Kapitel einer historischen Persönlichkeit oder
fiktiven Figur, mit deren Erleben sich das Geschehen chronologisch
vorantreiben ließ. Dazu mussten die Protagonisten miteinander
verknüpft werden. Gemeinsam war ihnen, dass sie mit großen
Erwartungen nach Treveris gekommen waren. Die Erzählstruktur
orientiert sich neben Konsular Ausonius an einigen römischstämmigen
Stadtbewohnern sowie am Schicksal vier junger Leute aus einem
keltischen Höhenort. Sie alle werden mit der verhängnisvollen
Entwicklung um Kaiser Gratian konfrontiert.
Bildung,Kunst und Kultur sind einer Elite vorbehalten
× Sandra Eisenbarth , Pooltest
experimenta_ Dein Roman spielt Ende des 4. Jahrhunderts. Was war das für eine Zeit?
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Interview
Interview
Anne Mai_ Linksrheinisch herrschte das Römische Imperium. Über Jahrhunderte
hatte es seine Macht durch Eroberung und Ausbeutung gesichert,
gleichzeitig seine Kultur etabliert. Zur Zeit des Buches hatte es eine
Ausdehnung erreicht, deren Grenzsicherung nicht mehr zu leisten war.
Germanische Raubzüge über die Rheingrenze zerrütten das Vertrauen in
die römische Schutzmacht.
experimenta_ Gibt es Parallelen zur heutigen Zeit?
Anne Mai_ Auf jeden Fall. Noch herrscht Frieden im römischen Gallien, aber
Wohlstand, soziale Sicherheit und Ordnung sind in Gefahr. Bildung,
Kunst und Kultur werden einer Elite vorbehalten. Die Wälder weichen
Schafsweiden. Der einzige Energielieferant Holz, auf den alle Fabriken
und Heizungen angewiesen sind, wird kostspielig. Östliche Völker
drängen über die Rheingrenze. Die Menschen sorgen sich um Familie und
Wohlstand.
experimenta_ Wie würdest Du den Lesern den Inhalt Deines Romans erzählen?
Anne Mai_ Er führt ins römische Trier und schildert eine letzte Blütezeit vor dem
Untergang des römischen Imperiums.
380 n. Chr. erklärt Kaiser Gratian das Christentum zur einzig erlaubten
Staatsreligion und viele Menschen verlieren ihren angestammten
Glauben. Zunehmend zerstören germanische Einfälle das Vertrauen
in den jungen Kaiser, so dass dessen Statthalter Ausonius sich um den
Frieden und um Gratians Leben sorgt. Ausonius wiederum bemerkt
in seinem Standesdünkel nicht, dass seine Geliebte Bissula sich dem
Mosaikkünstler Alexandro zuwendet. Die bevorstehende Zeitenwende
spüren auch der Seidenhändler Armitari und seine Frau Julia, weshalb
beide um das sorglose Leben in der schönen Stadt fürchten. Bissulas
keltische Gesellschafterin Ada steht zwischen zwei Kulturen und wendet
sich dem Christentum zu. Im August 383 findet ein Fest zu Ehren Gratians
statt, aber der Kaiser kämpft bereits um die Macht im eigenen Heer. In
Lyon wird Adas Jugendfreund Edwin Zeuge einer ungeheuren Gräueltat,
die alles verändert.
Der Schreibprozess erfolgte im stillen Kämmerlein
experimenta_ Hast Du mit einem Team gearbeitet?
Anne Mai_ Team insofern, als ich kompetente Unterstützung hatte bei der
Recherche zu historischen Orten und Persönlichkeiten sowie über
die damalige Religionssituation. Das Lektorat wechselte gegen Ende.
Natürlich gab es Anregungen und kritisches Korrekturlesen. Mein Dank
ist auch im Buch zu finden.
experimenta_ Wie lange hast Du an dem Roman gearbeitet?
Anne Mai_ Etwa zehn Jahre. Allerdings gab es Unterbrechungen und Zeiten, in denen
ich vor allem Lyrik schrieb.
experimenta_ Wie sah Dein tägliches Arbeitspensum am Roman aus?
Anne Mai_ Das Buch erschien im Herbst 2021. Ab 2020 intensivierten sich die
Schreibarbeiten. Ich wollte das Projekt abschließen, zumal mir die
Corona-Situation mehr Schreibzeit verschaffte. Mein Arbeitspensum
absolvierte ich an drei bis vier Vormittagen von 5.00 bis 10.00 Uhr,
alternativ an drei bis vier Abenden von 19.00 bis 23.00 Uhr, an manchen
Tagen auch zwei Schreibblöcke. Besonders in 2020 und 2021 waren die
„Pfauenschreie“ sehr präsent. Ich „lebte“ mit meinen Figuren, was selbst
in einer langen Ehe Verständnis erforderte.
experimenta_ Planst Du Lesungen für Deinen Roman?
Anne Mai_ Ja. Leider erschien das Buch in einer von Corona dominierten Zeit ohne
Buchmessen oder Lesungen.
experimenta_ Welches Marketing verbirgt sich hinter Deinem Roman?
Anne Mai_ Er ist überall im Buchhandel zu bestellen. Ich bewerbe ihn auf FB,
Instagram, über die Autorenhaus Verlag GmbH sowie auf meiner
Website. Dabei spreche ich nicht nur historisch interessierte Leserinnen
und Leser an. Außerdem habe ich Buchhandlungen informiert und
Werbekarten verteilt. So wurde der Roman von Thalia Trier online
vorgestellt. Einen Zeitungsartikel gab es ebenfalls.
experimenta_ Wie bist Du an die fundierten Informationen aus der Zeit des
ausgehenden 4. Jh. gekommen?
Anne Mai_ Über die üblichen Recherche-Quellen: Sachbücher,
Informationssendungen, Wikipedia. Außerdem besuchte ich immer
wieder entsprechende Museen sowie Trier und den Moselraum.
experimenta_ Welche literarischen Ziele verfolgst Du im Augenblick?
Anne Mai_ Zu meiner Freude haben sich zwei neue Lyrikprojekte ergeben, eines
davon auch mit lyrischen Prosatexten.
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Interview
Künstlerin des Monats
Pfauenschreie in Treveris
Anne Mai
BoD 2021
ISBN 978 3754313107
12,00 €
× Anne Mai lebt in Mandelbachtal, Saarland; Abschluss
Creative Writing am INKAS-Institut; mehrere eigenständige
Veröffentlichungen; Mitherausgabe einer Anthologie; Beiträge
in Literaturzeitschriften und Anthologien, so in 2022 bei der
Gruppe 48 und der Ges. für zeitgenössische Lyrik sowie in
Heft 11/22 der experimenta; in 2021 der historische Roman
„Pfauenschreie in Treveris“. Mehr unter: https://anne-maiautorin.jimdosite.com/
× Sandra Eisenbarth , Waschbär
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Ausschreibung
Schaukasten
Literaturwettbewerb Preis der Gruppe 48 für das Jahr 2023
Katharina Schweissguth
Die Kunst, ein Einhorn aus dem Papierkorb zu fischen
Die Ausschreibung startet mit 14 000 Euro Preisgeld
Preis der Gruppe 48 für Prosa
Preis der Gruppe 48 für Lyrik
Jurypreis der Gruppe 48
Beginn: 15. November 2022
Einsendeschluss: 15. März 2023, 24.00 Uhr
Informationen über die Teilnahmebedingungen und zur Jury
finden Sie auf den Homepageseiten Gruppe 48:
https://www.die-gruppe-48.net/Preis-fuer-Lyrik-und-Prosa-2023
Seit ich denken kann, habe ich gemalt. Bereits mit vier Jahren pinselte ich
mit richtigen Wasserfarben herum, allerdings besaß ich nie einen neuen
Farbkasten, in dem die frischen Farben in ihren sauberen Näpfchen so
schön leuchteten. Schließlich hatte ich ältere Geschwister und von ihnen
habe ich herabgespitzte Buntstifte, Bücher mit Eselsohren und eben
ausgewaschene Malkästen geerbt. Meine große Schwester war mein
künstlerisches Vorbild. Sie malte orientalische Bühnenbilder für unser
Kasperltheater und zeichnete Menschen mit sehr ausdrucksstarken
Gesichtern, vor denen ich mich ein bisschen fürchtete. Meine
selbstvergessene Begeisterung für meine eigenen frühkindlichen
Kritzeleien verschwand. Wie malt man Gesichter, Pferde und Autos, sodass
man sie erkennt? Ich konnte es nicht und bat meine Schwester mir zu helfen. So
bekam ich viel Anregung, doch gleichzeitig wuchs das Gefühl, nie an mein Vorbild
heranzukommen.
× Katharina Schweißguth,
Die Dame mit dem Einhorn
Ich habe viel Zeit mit Tagträumereien verbracht. Sobald ich schreiben konnte, schrieb ich kleine
Geschichten auf, zum Beispiel „Der Auszug aus Ägypten“. Es war ein sozialkritisches Drama, aber
meine Schwester fand es drollig. Alles, was in meinem Kopfkino so plastisch schillerte, erschien mir
auf Papier gebannt platt und ungelenk. Doch ich blieb dran, denn ich kannte es gar nicht anders.
× Katharina Schweißguth, Delphin
Als ich mich später für einen Beruf entscheiden musste, war das Grafikerin. Anfangs fand ich die
Ausbildung sehr mühselig, z. B. lernte ich eine klecksfreie Reinzeichnung mit Tusche und Rapidografen
anzufertigen (es gab dafür noch keine Computer). Aber ich entwickelte Fleiß und Ehrgeiz und wurde
belohnt: Mit meinen zunehmenden Fähigkeiten konnte ich meine Ideen immer besser zu Papier
bringen. Das setzte scheinbar unendlich viel Kreativität frei. So arbeitete ich über 30 Jahre als
Grafikerin: Ich scribbelte, layoutete, airbrushte und verfasste für die Flyer meiner Kunden Texte. Ein
Traumberuf – mit der einzigen Einschränkung, dass die Inhalte immer die Inhalte meiner Auftraggeber
waren, ob sie nun Badezimmer verkauften oder
Kochbücher herausgaben. Meine Kreativität für
andere einzusetzen wurde mir zur zweiten Natur.
Über den Poesiebriefkasten, den ich 2013 ins Leben
rief, sammele ich nun Gedichte von Hobbypoeten
und bringe sie über allerhand kreative Aktionen in
die Öffentlichkeit.
Ich habe sehr lange gebraucht, künstlerisch zu
mir selbst zu finden. Wobei es mir beim Schreiben
leichter als beim Malen gefallen ist. Vielleicht weil
die Schreibkunst nur einen Stift und ein Notizbuch
× Katharina Schweißguth, Traummanege
benötigt. Vier Jahre arbeitete ich an meinem Roman
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Schaukasten
Schaukasten
× Katharina Schweißguth, Der frühe
Vogel macht Musik
„Der Liebesbriefkasten“. Die Hauptfigur Claudl ist hier so eine Art
Tarnbehälter in dem ich, was mich persönlich bewegt, nach außen
transportieren kann.
Dann kam die Lockdown-Zwangspause. Ich saß wie ein Kind mit
meinen Einhörnern allein zuhaus. Doch anders als als Kind durfte
ich soviel Serien gucken, wie ich wollte, und dazu ein großes Glas
Rotwein trinken. Doch die Selbstdisziplin, die ich in meinem Beruf
gelernt hatte, bewahrte mich davor zu versumpfen. Wie viele
andere begann ich auszumisten. Doch dann holte ich die Abfälle
wieder aus dem Papierkorb und klebte sie in aussortierte Bücher
hinein. Diese Collagen übermalte ich wiederum, schrieb meine
ungefilterten Gedanken darüber, das Ganze zerriss ich und klebte es
neu zusammen, so entstand mein erstes Junk Journal . Durch die
Upcycling-Kunst hatte ich endlich das Hemmnis umgangen, zu
glauben, meine Kopfgeburten seien nicht gut genug, um dafür weißes Papier zu verschwenden. Die
Furcht, etwas falsch zu machen, kam gar nicht erst auf. Was für eine Befreiung! Dabei ist das Ergebnis
nicht so wichtig. Im Entstehungsprozess fühle ich mich göttlich und, schwupps, auf einmal ist es vier
Uhr morgens.
Delfin / Pinselabstreifbild, Acryl auf Aquarellpapier
Glühwürmchen / Pinselabstreifbild, Acryl auf Aquarellpapier
Der frühe Vogel macht Musik / Aquarell
Kornmadonna mit Fischkind / Mixed Media
Geist verpflichtet zu gar nichts / Mixed Media, Collage
Kreuz / Installation zum Gedenken an das abgerissene Uhrmacherhäusl in München Giesing
Just for fish / Fun-Installation
Nun freue ich mich riesig über die Veröffentlichung einiger Werke in der experimenta. Früher hätte ich
mich gefragt, werden meine Bilder den Leserinnen und Lesern gefallen? Heute weiß ich: Jeder jagt
seine eigenen Einhörner.
Weitere Informationen: katharina-schweissguth.de
Der Mond / Mixed Media, Acryl auf Buchseiten
The origins of synkretism / Assemblage, Mixed media
Die Verführung / Mixed Media, Collage, Acryl, Tuschezeichnung
Traummanege / Mixed Media, Collage, Acryl, Tuschezeichnung
Sitzende / Mixed Media, Collage, Monoprint, Acryl auf Papiermuster
Füttern verboten / Mixed Media, Collage, Monoprint, Acryl auf
Papiermuster
Die kreißende Welt / Acrylmalerei
Alice on Page 404 / Mixed Media
Sancho Panza / Mixed Media
Lockstoff / Junk Journal Cover / Mixed Media, Buch-Upcycling
Lockstoff / Junk Journal Page 2, 3 / Mixed Media, Buch-Upcycling
Lockstoff / Junk Journal Page 2, 3 umgeblättert / Mixed Media,
Buch-Upcycling
Der geflügelte Fisch / Assemblage, Mixed Media
Die Dame mit dem Einhorn / Mixed Media, Collage, Acryl u.a. auf
Buchdeckel
× Katharina Schweißguth, Verführung × Katharina Schweißguth, Geist verpflichtet zu gar nichts
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Jetzt kommt der Sünderwald
Jetzt kommt der Sünderwald
Christian Sünderwald
Der Quantensprung der Computer
eines Tages wollen werden?
Das Erfolgsrezept des Menschen besteht von jeher
macht die Sache so spannend und herausfordernd,
denn man muss sich mit allen Eventualitäten
auseinandersetzen, um zumindest eine Ahnung
in seinen umfangreichen kognitiven Fähigkeiten und
davon zu bekommen, wo zukünftig der Platz des
In den letzten drei Jahrzehnten hat sich die
Computertechnologie beispiellos rasant entwickelt
– vom Mittelalter zur Moderne innerhalb eines
Wimpernschlags. Doch damit nicht genug: Es sieht
ganz danach aus, dass diese Entwicklung schon
bald einen noch nie da gewesenen Quantensprung
vollzieht, denn der Quantencomputer steht kurz
davor, seinen Siegeszug aus den Versuchslaboren
heraus anzutreten. Alles, was wir bis dahin für
moderne Computertechnik gehalten haben, wird
der neue Super-Computer zu Elektroschrott
degradieren.
Schon vor gut zehn Jahren wurde in einer Studie
für das Pentagon prognostiziert, dass selbst
konventionelle Computerprozessoren schon bald die
Rechenleistung des menschlichen Gehirns erreicht
haben. Mit dem Quantencomputer wird diese
Rechenleistung nicht nur auf einen Schlag erreicht
sein, sondern um ein Mehrfaches übertroffen
werden.
Der Unterschied zwischen dem derzeit schnellsten
Computer der Welt und einem Quantencomputer ist
ungefähr so groß, wie der zwischen einem Zeppelin
und einem Überschallflugzeug. Den Unterschied
machen Qubits (ein Kofferwort aus Quanten-Bit)
statt Bits, die bis heute den gängigen „Treibstoff“
von Computern darstellen. Ein Bit kann nur zwei
Zustände einnehmen: entweder eine „1“ oder eine
„0“. Diese beiden Zustände werden durch die
Prozessoren heutiger Computer mit Strom erzeugt:
„Strom an“ führt zu Zustand „1“ und „Strom aus“
erzeugt den Zustand „0“. Die herkömmlichen
Bits sind wie einzellige Amöben, wohingegen
Qubits hochkomplexen Lebensformen mit ihren
Billionen an unterschiedlichen Körperzellen
entsprechen. Ein Qubit kann gleichzeitig im
Zustand „1“ und „0“ sein oder auch in unendlich
vielen Zuständen dazwischen. Man braucht kein
Computerwissenschaftler zu sein, um daraus
leicht zu erkennen, welch unfassbares Potenzial in
Quantencomputern steckt.
Die Computer der neuen Generation werden vor
allem auch der künstlichen Intelligenz (kurz „KI“)
dazu verhelfen, die Ketten zu sprengen, in die sie
bisher aus Mangel an ausreichender Rechenleistung
gelegt war. Es wird schlagartig damit vorbei sein,
dass Siri oder Alexa zu kaum mehr im Stande sind,
als uns zu sagen, ob es heute regnen oder ein
Restaurant geöffnet haben wird.
Der weltberühmte Physiker Stephen Hawking hielt
es für den größten Fehler in der Geschichte der
Menschheit, die Risiken künstlicher Intelligenz
zu unterschätzen. Alles, was der Mensch bisher
hervorgebracht hat, sei originär ein Produkt des
Intellekts. Daher wäre die Entwicklung einer
künstlichen Intelligenz "der größte Moment
der Menschheitsgeschichte". Wir müssten nur
aufpassen, so Hawking, dass es nicht der letzte ist.
In der Entwicklung der künstlichen Intelligenz
werden schon jetzt riesige Fortschritte erzielt
und die Giganten im digitalen Business, wie Apple,
Microsoft, Amazon, Google und Meta (Facebook/
Instagram) investieren immer weitere Milliarden
in die Forschung – annähernd so viel, wie der
amerikanische Staat insgesamt pro Jahr für die
zivile Forschung. Es ist also unausweichlich, dass
die Computersysteme immer mehr immer schneller
lernen werden und das außerdem zunehmend
selbstständig.
Eine der zentralen Fragen wird sein, was die
Computer der neuen Generation mit ihrem digitalen
Superhirn alles können und vor allem, was sie dann
seine allen anderen Wesen überlegene Intelligenz.
Daran bestand für ihn bislang auch keinerlei
Zweifel. Doch jeder Fortschritt der KI wird diese
Gewissheit immer weiter erschüttern. Dass wir
gegen Computer im Schachspiel chancenlos sind,
haben wir verdaut. Dass sie sich das eher intuitive
Go-Spiel inzwischen selbst beigebracht haben
und uns darin schlagen, lässt sich vielleicht auch
noch verschmerzen. Dass Computer uns aber seit
einiger Zeit auch im Pokerspiel überlegen sind,
darf uns schon langsam ins Grübeln bringen. Denn
zum Erfolg beim Poker gehört vor allem der Bluff,
also das Geschick, dem Mitspieler gegenüber mit
erfahrungsgetragener Menschenkenntnis, Empathie
und Intuition zu begegnen. Das alles waren bisher
eindeutig Eigenschaften, die wir als dem Menschen
vorbehalten angesehen haben und Computern nie
zugetraut hätten. Man muss sich heute fragen, was
folgt als Nächstes und wo führt das alles noch hin?
Es kommt zu einer Frage, die sich bisher nie gestellt
hat: Gibt es zukünftig noch so etwas wie ein
absolutes Alleinstellungsmerkmal des Menschen
gegenüber dem Computer? Und falls ja, worin wird
es bestehen?
Es geht nicht darum, welche Berufe künftig auch
noch digitalisier- und automatisierbar sind, ob
LKWs noch Fahrer, die Post noch Briefträger oder
Restaurants noch Kellner brauchen. Vielmehr geht
es um die Definition dessen, was den Menschen an
sich im digitalen Zeitalter ausmacht. Was ist es, das
auch die klügste KI uns Menschen niemals streitig
machen kann, oder werden wir erleben, wie nach
und nach eine humane Bastion nach der anderen
von den Computern erobert wird?
Es vermag wohl derzeit niemand darauf eine
zukunftssichere Antwort zu geben. Genau das
Menschen in einer durch und durch digitalisierten
Welt sein wird.
Die KI-Forschung ist möglicherweise im Begriff, mit
dem Prinzip des Deep Learning in Verbindung mit
dem Potenzial der Quantencomputer die Büchse
der Pandora zu öffnen. In jedem Fall wird sie die
Computer in eine eigene Freiheit entlassen, die wir
heute kaum abschätzen können. Informationen
werden in künstlichen neuronalen Netzen
verarbeitet, die – ähnlich wie im menschlichen
Gehirn – in verschiedenen Hierarchiestufen
angeordnet sind und so ein "tief gehendes Lernen"
ermöglichen. Das Entscheidende dabei ist, dass
der Entwickler nur noch das neuronale Netz an sich
programmiert, also die „Hirnmasse“ bereitstellt. Der
Computer erstellt dann aus unzähligen Datensätzen,
die er sich aus einer Vielzahl unterschiedlicher
Sensoren zusammensammelt, selbstständig
Konzepte und Modelle über die Welt – ganz ähnlich
dem Lernprozess kleiner Kinder.
Alle großen Digital-Konzerne nutzen heute
Long Short-Term Memory Networks (LSTM) und
andere "tiefe Netze", die bereits in den 1990er
Jahren entwickelt wurden. In über drei Milliarden
Smartphones und anderen Rechnern auf der Welt
sind diese LSTM-Netze die Arbeitsgrundlage jener
nützlichen Apps, die das Schreiben vereinfachen,
Bilder erkennen oder Sprachen übersetzen.
Doch noch ist die hier agierende KI nicht mal auf
Kleinkindniveau. Am Quantencomputer werden
wir beobachten können, wie weit sich KI bereits
entwickelt hat und regelrecht einen Sprung aus
ihren Kinderschuhen machen wird. Gut möglich,
dass wir damit auch das Wesen der Intelligenz
plötzlich vollständig verstehen werden, das
vielleicht dann sogar recht simpel erscheint.
44 01/2023 www.experimenta.de 45
Jetzt kommt der Sünderwald
Jetzt kommt der Sünderwald
Ob all die Fähigkeiten des Homo sapiens, die heute
noch als durch die Computer uneinnehmbare
Bastionen angesehen werden, wie etwa Liebe,
Empathie, Kunstschaffen, moralisches Denken oder
schlicht die Zuversicht am Ende ihm vorbehalten
bleiben und dazu ausreichen, die Computer auf
Dauer unter Kontrolle zu halten, wird die Zukunft
zeigen. Wenn wir aber nicht endlich anfangen, genau
darüber kritisch nachzudenken und einen Diskurs zu
führen, haben wir schon jetzt verloren.
Das Spannende wird sein, dass diese Erkenntnis
gleichzeitig auch die Computer haben werden. Diese
Entwicklung weitergedacht, werden Computer
entstehen, die viel klüger sind als der Mensch es je
sein kann und man sich damit auch fragen muss,
ob es dann überhaupt noch „nur“ Maschinen oder
nicht schon eigene Persönlichkeiten mit eigenen
Ansprüchen sind und sie ein Persönlichkeitsrecht
für sich in Anspruch nehmen dürfen, oder es
einfach werden. Das wird wohl spätestens dann
so weit sein, wenn maschinelle Gehirne ein
Situationsbewusstsein erlangt haben und flexible
Entscheidungsmechanismen besitzen. Durch die
Fähigkeit des autonomen Lernens werden sich die
Computer jene Instinkte, die uns Menschen von der
Evolution mitgegeben wurden, selbst beibringen
bzw. programmieren, wie den Überlebenswillen, das
Besitzstreben oder die Neugier.
Was wird dann aus dem Menschen? Wissenschaftler
gehen ziemlich einhellig davon aus, dass der Mensch
langfristig keine große Rolle mehr spielen und er
damit auch keine wichtigen Entscheidungen mehr
treffen wird.
In jedem Fall wird der Mensch aber rückblickend
× Christian Sünderwald
erkennen, dass er der Wegbereiter dieses
bevorstehenden Evolutionsschritts war. Seine
eventuelle Reue wird dann ebenfalls keine Rolle
mehr spielen.
Dass diese Entwicklung noch aufzuhalten ist,
muss stark bezweifelt werden. Ein einzelner
Staat könnte wohl Gesetze erlassen, welche die
Weiterentwicklung von KI verbieten, aber es gibt
eben auch immer jene, die sich davon einen Vorteil
versprechen und fortgeschrittene künstliche
Intelligenz auch als Waffe einsetzen wollen. Die
Ergebnisse aus dem Suchbegriff „Slaughterbots" bei
YouTube vermitteln einen Eindruck vom drohenden
weltweiten Wettlauf um KI-Waffensysteme.
Trotz dieser apokalyptischen Aussichten ist
nicht zu erkennen, dass die Forschungs- und
Entwicklungsanstrengungen in diesem Bereich
auch nur im Ansatz Skepsis begegnen. Und bei den
großen Digitalkonzernen tobt sowieso bereits ein
verbissener Wettlauf um die KI-Vorherrschaft, der
keinerlei staatlichen Konventionen unterworfen
ist. Furcht vor dem, was man damit erschafft:
Fehlanzeige! Digital first!
× Christian Sünderwald, 52, in München geboren, seit 1991 in
Chemnitz lebend, ist Fotograf, Essayist, Aphoristiker und Autor u.
a. mehrerer Bildbände. Er setzt sich in seinen Essays immer wieder
mit gesellschaftlichen Themen kritisch und bisweilen auch satirisch
auseinander. Mehr zum Autor ist unter www.suenderwald.de zu
erfahren.
× Sandra Eisenbarth,
Prinzipienreiter
46 01/2023 www.experimenta.de 47
Prosa
Prosa
Peter H. E. Gogolin
unsere Mutter gut ist. Wir hatten uns aber stets ein
gesagt, dass man das Risiko genauso bedenken
Morgen ist ein anderer Tag
wenig unwohl gefühlt, wenn sie wieder mit einem
neuen Rezept zurückgekommen war, denn es war
natürlich klar, dass wir irgendwie für ihre Krankheit
müsse wie den Nutzen, aber er hatte ihr nur geraten,
hin und wieder mit Valium abzuwechseln.
Sie lüftete die Decke und strich sie dann über ihren
verantwortlich waren, und es wäre das Beste
Knien glatt. Ich roch die abgestandene Luft im Raum
Anfang des Sommers hatte ich ein Gespräch
vor einer Stunde nehmen sollen, aber ich war ganz
gewesen, wenn sie sich von uns allen hätte befreien
und dazu den Schweißgeruch, der ihren Körper
mit unserem Pastor über mich ergehen lassen
allein, und da hab ich es vergessen.«
können, um ein neues Leben zu beginnen, das sie
einhüllte. Entfernt hörte ich das Juchen der Kinder,
müssen, und das war ziemlich verrückt. Er war erst
Ich hörte nicht mehr hin. Es war immer das gleiche.
auch gesund gemacht hätte.
die trotz der Hitze auf dem Spielplatz tobten. Ich
seit Ostern unser Pastor, doch Mutter, die schon
Selbst der Quatsch mit meinem Namen. Konnte sie
Ich trug ihr die beiden Adumbran rüber. Aus dem
musste auch an den süßlichen Dunst der großen
seit Monaten nur noch aus ihren verschwitzten
nicht einfach Bertold sagen? Nicht, dass ich den
Durchgang zur Speisekammer roch es muffig, und
Müllwannen vorm Haus denken, um die tagsüber die
Kissen aufstand, um Maria oder mir mitzuteilen,
Namen besonders mochte, aber ich hatte immerhin
am Kopfende ihrer Couch stand wie immer der
Wespen taumelten, an die Jungs auf den Mopeds,
dass sie schon wieder nicht wisse, wo irgendeine
Jahre gebraucht, damit sie mich nicht mehr Dicki
Abfalleimer, in den sie über Tag alles hineinschmiss.
die die leeren Coladosen über die Straße kickten,
ihrer Tablettenschachteln hingekommen sei, war
nannte. Berni war inzwischen irgendwie ein Ersatz
Das silberne und goldene Konfektpapier,
und an das müde Laub der Bäume vorm Haus; wenn
von ihm ganz überwältigt, und er hatte das sicher
für Dicki geworden, und ich hatte es noch nicht
Bananenschalen, ausgeschabte Avocados, die
man die Blätter anfasste, dann waren sie jetzt ganz
reichlich ausgenutzt. Am Nachmittag, als ich in die
fertiggebracht, ihr das auszureden.
flachen Blechdosen, aus denen sie marinierten Fisch
klebrig und voll von Staub.
Küche gekommen war, hatte sie gesagt: »Es wird
Die Adumbran lagen neben dem Infrarotgrill,
aß, zerknüllte Papiertaschentücher, Wattestäbchen,
Mutter sah mich an, und ich wusste nicht, was
dich vielleicht überraschen, aber der Herr hat mich
den Paps in der Woche vor Weihnachten zum
mit denen sie sich dauernd die Ohren ausputzte und
ich denken sollte. Die Katze war hinter dem Sofa
erhört.«
Selbstkostenpreis von seiner Firma gekauft hatte.
ich weiß nicht was sonst noch alles.
hervorgekommen und begann im Abfalleimer
Sie hatte schon lange diesen salbungsvollen Ton
Sie bekamen in der Firma immer diese Elektrogeräte
Sie schluckte die Tabletten trocken und sagte dann:
nach einem der rosa Ohrstäbchen zu angeln. Das
drauf, und obwohl sie mir immer noch leid tat, war es
anstelle von Weihnachtsgeld, und Mutter hatte sich
»Du hättest mir auch etwas Mineralwasser bringen
Ding rutschte immer wieder weg, und als es mir
mir eigentlich reichlich egal, was sie da so von sich
ganz irrsinnig darüber gefreut, obwohl sie ihn bisher
können, aber daran denkt ja keiner. Fühl mal mein
zu blöd wurde, trat ich einmal mit dem Fuß auf,
gab.
nur einmal benutzt hatte. Es war genauso wie mit
Ohr.« Sie hielt mir ihr linkes Ohr hin und blickte,
damit sie es sein ließ. Die Katze blickte mich an und
Mutter lag seit dem Krach mit Paps hinten neben der
dem Mixer gewesen, den sie vor drei Jahren gekauft
während sie ganz gerade auf dem Sofa saß, zu mir
schritt dann zur Stehlampe hinüber, wo Mutter ihre
Speisekammer auf dem schmalen Sofa, das wir vor
hatten. Paps hatte ihn abends vorgeführt und eine
auf.
Krimis aufgestapelt hatte. In ihrem Gang lag was
zwei Jahren für Oma angeschafft hatten, aber Oma
Bananenmilch gemacht, die in dem dickwandigen
»Ist es größer geworden?« Das Kissen in ihrem
Verächtliches.
hatte es glücklicherweise nicht lange gebraucht. Es
Glas gelblichweiß schäumte. An diesem Abend
Rücken war heruntergerutscht. Ich zog es hoch,
»Lass Maja in Ruhe«, sagte Mutter. »Sie ist das
war ziemlich hell von der Küche her, und quer durch
hatten alle den Eindruck gehabt, dass wir den Mixer
schüttelte es auf und steckte es neu zurecht,
Einzige, was ich hab. Ohne sie hätte ich über Tag
den Vorraum drang das späte Nachmittagslicht.
unbedingt brauchten, doch seither stand das Ding
dann tastete ich mit dem Zeigefinger hinter ihrem
niemanden, der mir mal ein bisschen Gesellschaft
Vorn überm Sportplatz hing die Sonne zwischen den
oben auf dem Bord, neben dem Durchlauferhitzer
Ohr herum, bis ich es fand. Sie hatte seit Jahren
leistet.«
schwarzroten Backsteinbauten, und ich hörte trotz
und nur wenn Mutter plötzlich sagte, im Sommer
hinter dem linken Ohr eine kleine Kuhle, etwa so
»Na, hör mal«, sagte ich, »ich bin extra
der geschlossenen Fenster das Geschrei der Kinder,
mach ich uns eine schöne Mixmilch, erinnerte sich
groß wie die Kuppe meines Zeigefingers. Wenn man
raufgekommen.«
die sich von den Turngeräten stießen. Warum ich
noch jemand daran.
die Haut eindrückte, konnte man die Fingerkuppe
Aber sie hatte mich anscheinend gar nicht gehört,
raufgekommen war, wusste ich in diesem Moment
Ich schüttete mir zwei von den Pillen auf die
ganz hineinlegen. Ich zog die Hand zurück, denn es
und es war ja auch nicht wahr.
bereits nicht mehr. Vermutlich hatte ich nach ihrem
Handfläche und stellte die Dose zurück. Es lagen
war irgendwie ein komisches Gefühl, das ich nicht
»Euch ist es im Grunde doch völlig egal«, sagte
Portemonnaie suchen wollen, um Klara und mir ein
noch Mogadan da, die sie immer zur Nacht brauchte,
mochte.
sie, »du brauchst dich gar nicht anzustrengen. Es
Eis zu kaufen, drüben bei Glauke am Kiosk. Ich ging
dann Valium 10 und zwei Sachen für Magen und
»Nein«, sagte ich, »es ist wie immer.« Aber sie war
wäre euch doch am liebsten, wenn ihr mich los sein
so in der Küche umher und sah zwischendurch in
Milz, zumindest hatte sie es uns so erzählt. Das
nicht zufrieden, schüttelte den Kopf und sagte,
könntet.«
den Brotkasten. Vom Morgen lagen noch die Krümel
war natürlich reichlich, aber sie ging seit Jahren zu
es sei bestimmt größer geworden, so dass ich mir
Ich hatte es längst aufgegeben, gegen solche
um die Brotschneidemaschine, und ich klappte
Doktor Heitkamp, der oben am Wiesendamm seine
ganz überflüssig vorkam. Irgendwann hatte sie
Behauptungen anzureden. Die Katze schleppte ein
das Schneidebrett hoch. Die Katze fraß immer die
Praxis hatte. Er hieß eigentlich Dr. von Heitkamp,
auf dem Zettel einer Pillenschachtel gelesen, dass
Bündel zerfetzter Strohblumen hinter dem Sofa
Krümel weg und eigentlich war es mir gleichgültig,
und er hatte Paps vor drei oder vier Jahren zur
man davon Muskelatrophie und Knochenschwund
hervor und sprang damit auf die Fensterbank;
aber wenn ich drüber nachdachte, dann fand ich das
Arbeit geschickt, obwohl Paps damals ziemlich
bekommen könne, und seither mussten Maria und
irgendwo aus dem Hof drang hektisches
doch ziemlich eklig.
runter gewesen war und kaum gehen konnte. Wir
ich und manchmal auch Paps nach dieser Kuhle
Teppichklopfen herauf, und ich ging wieder in die
»Berni«, rief sie von ihrer Couch her, »findest du
waren immer davon überzeugt gewesen, dass
hinter ihrem Ohr tasten. Sie nahm die Dinger nun
Küche zurück, um mich so schnell wie möglich
irgendwo meine Adumbran! Ich hätte sie schon
solch ein strenger Mensch wissen müsste, was für
schon seit zehn Jahren, und Dr. Heitkamp hatte
zu verdrücken. Ich nahm die letzte Scheibe Brot
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Prosa
Künstlerin des Monats
aus der Packung und aß sie trocken, obwohl ich
gar keinen Hunger hatte. Im Kühlschrank war nur
der Diätfruchtsaft, den ich nicht mochte, aber ich
trank trotzdem ein großes Glas davon. Während
der ganzen Zeit hatte ich das Gefühl, dass sie
mich beobachtete. Obwohl ich nicht wusste, ob
es wirklich stimmte, wurde mein Körper unter
diesem eingebildeten Blick ganz steif, und ich
versuchte, mich möglichst normal und unauffällig zu
benehmen.
»Du gehst aber doch bestimmt heute noch hin«,
sagte sie, »damit er gar nicht erst den Eindruck
bekommt, dass du kein Interesse hast.«
Mir war überhaupt nicht klar, was sie meinte. Mutter
hatte in den letzten Jahren immer häufiger auf diese
unzusammenhängende Art mit uns geredet; sie ließ
einfach ganze Teile des Gesprächs aus, Sätze, an die
sie möglicherweise gedacht hatte, oder von denen
sie nur annahm, dass sie sie bereits ausgesprochen
habe, so dass wir immer versuchen mussten, uns
die fehlenden Teile zusammenzureimen. Und es half
gar nicht, wenn man sie fragte, weil sie dann einfach
behauptete, man habe ihr nicht zugehört und an der
Stelle weiterredete, an der sie gerade angekommen
war.
»Sicher«, sagte ich deshalb, »natürlich geh ich hin.
Wo erwisch ich ihn denn?« Man musste nur wissen,
wie man fragen musste, dann konnte man so
ziemlich alles aus ihr herausbekommen.
»Stell dich nicht dümmer an, als du bist«, sagte
sie, »natürlich im Gemeindebüro und nimm deinen
Führerschein gleich mit, dann kannst du ihn zeigen
und brauchst nur noch das Gesundheitszeugnis.«
Ich stellte den Fruchtsaft zurück und knüllte die
Plastikhülle des Brotes zusammen, um sie in den
Müllschlucker zu werfen. Die Klappe stand wieder
offen, ich warf die Verpackung hinein und schloss
sie dann fest. Paps bat sie alle zwei oder drei Tage,
dass sie den Müllschlucker nicht offenstehen lassen
sollte, weil die Schaben den Schacht hinaufliefen
und nachts in die Wohnung kamen.
Was sie mit dem Gesundheitszeugnis meinte,
wusste ich nicht, aber weil sie den Führerschein
und das Gemeindebüro erwähnt hatte, war mir
der Zusammenhang so einigermaßen klar. Auch
dass der Herr sie erhört habe, passte dazu. Sie
hatte es mir nicht verziehen, dass ich nach der
Schule keine Arbeit gefunden hatte, obwohl es in
der Siedlung viele in meinem Alter gab, denen es
so ging. Eigentlich hatten nur Ralf und Eike eine
richtige Lehrstelle und von den Mädchen gar keins,
das heißt Klara hatte Aussicht auf Frisöse bei
Bunke in der Jarrestraße, aber erst ab Herbst. Ich
erinnerte mich ziemlich genau, dass Mutter zwei
Wochen zuvor gesagt hatte: »Wenn der Herr mich
erhört, dann wird er mich nicht sterben lassen,
bevor du eine anständige Arbeit gefunden hast.«
Zwar war niemandem von uns klar gewesen, warum
sie so plötzlich vom Sterben sprach, aber sie war
gerade wieder mit Frau Hennemann, die sie noch
von früher vom Kirchenchor her kannte, in der
Bibelstunde gewesen, die der neue Pastor für die
Rentner in der Siedlung eingerichtet hatte, und so
war es nicht besonders erstaunlich. Ich hatte immer
gedacht, dass die alten Leute nur dorthin gingen,
weil es hinterher Kaffee und Kuchen gab und sie
sich dann in Ruhe miteinander unterhalten konnten.
Einige waren aber vermutlich von der Sache
wirklich überzeugt, und Mutter war es, wenn man
ihr so zuhörte, auf jeden Fall. Sie hatte uns erzählt,
dass der Pastor, bevor er die Pfarrei übernommen
hatte, bei der Telefonseelsorge gewesen war, und
wahrscheinlich war das der Grund, warum er sie alle
so leicht rumkriegen konnte. Er besuchte Mutter
auch regelmäßig, und vermutlich hatte sie ihm bei
einer dieser Gelegenheiten gesagt, dass der Herr ihr
nun endlich diesen Wunsch erfüllen müsse.
Im Schaukasten vor dem Gemeindebüro war seit
Anfang Juli ein Zettel angeschlagen, dass sie einen
Fahrer suchten, der jeden Tag das Mittagessen
von der Caritas zu den Rentnern in der Gemeinde
bringen sollte, die nicht mehr selbst einkaufen und
kochen konnten. Davon gab es eine ziemliche Menge
bei uns in der Siedlung, weil der Siedlungsverein
anfangs lauter Ostpreußen aufgenommen hatte,
und so wusste ich mit einiger Genauigkeit, was auf
mich zukommen würde.
× Sandra Eisenbarth, Urlaubs-Tagebuch
50 01/2023 www.experimenta.de 51
Prosa
Prosa
Ich ging erst am nächsten Tag hin. Den Zettel hatten
der Tag kommen, an dem man sehen könne, wer
erzählt, dass ich schon mal hier gewesen sei, und er
mit langen Bürsten und Lappen darin herum.
sie schon aus dem Anschlagkasten genommen,
hier von uns ein Verbrecher geworden sei. Paps
war nun völlig überzeugt, dass er keinen Besseren
Es kümmerte sich überhaupt niemand um uns.
und ich dachte, dass sie vielleicht bereits jemand
hatte gesagt: »Sei doch still, Elsbeth. Das Kind
als mich hätte finden können. Ich glaube, ich habe
Der Pastor meinte, dass ich am nächsten Tag
anderes hatten, aber das war natürlich falsch;
kann doch nichts dafür.« Aber das hatte Mutter
es ihm nur erzählt, um auch mal was zu sagen, denn
schon anfangen könnte. Die Röntgenaufnahme
Mutter hatte einfach fest versprochen, dass ich es
erst richtig wütend gemacht. »Es hilft gar nichts,
er hatte während der Fahrt so reichlich geredet,
und die anderen Untersuchungen sollten ruhig
machen würde, und so waren sie ganz sicher.
dass du sie in Schutz nimmst«, hatte sie mit ihrer
dass er mir irgendwie leid tat. Mir war der Gedanke
bis zur kommenden Woche warten. Sie wollten
Der Pastor war ein kleiner Mann, dessen tiefe
hysterischen Stimme, die sie immer bekam, wenn
gekommen, dass ich ihm da raushelfen müsse, aber
dann auch noch was mit meinem Stuhlgang und
Stimme gar nicht zu seinem Körper passte. Er bat
sie sich unbedingt durchsetzen wollte, gesagt, »du
vermutlich war das völlig falsch, und er konnte gar
mit meinem Blut machen, aber das sei nur eine
mich in sein Büro und setzte sich dann hinter den
weißt ganz gut, dass es deine Schuld ist, wenn aus
nicht anders.
Routineuntersuchung. Als wir wieder auf dem
Schreibtisch; im Sitzen sah er ganz ordentlich aus,
den Kindern nichts Ordentliches wird. Ich muss
»Ich hab mir gleich gedacht, dass es mit dir
Hof waren, ließ er mich mit einem der Busse, die
und man vergaß beinahe sofort, dass er so klein war.
mich überall für sie schämen, aber du merkst das ja
was sein könnte«, meinte er, »aber denk dran,
inzwischen zurückgekommen waren, einige Runden
»Es ist gut«, sagte er, »dass du die meisten Leute in
nicht.« Als Paps etwas antworten wollte, schnitt sie
es ist kein gewöhnlicher Job, du trägst da eine
drehen und sah dabei zu, als könnte er irgendwas
der Siedlung lange kennst, das wird dir den Anfang
ihm das Wort ab. »Was reg ich mich denn überhaupt
Verantwortung.«
entdecken. Ich sollte auch rückwärts an die Rampe
leichter machen.« Ich antwortete nicht, und er
auf. Es ist wirklich kein Wunder, bei euch in Polen
In diesem Moment kam er mir ein wenig wie Mutter
heranfahren, und das gelang ziemlich gut, obwohl
fragte: »Du kennst sie doch, oder?« Ich nickte nur,
wurde ja noch Sand in der Kirche gestreut, da kann
vor, aber ich sagte nichts dazu; vielleicht habe ich
ich in der Fahrschule beim Einparken bis zum
weil ich mich darüber ärgerte, dass er mich mit du
man nicht erwarten, dass die Kinder ordentlich
kurz genickt, aber so, dass er es eigentlich nicht als
Schluss Schwierigkeiten gehabt hatte. Ich war ja
anredete, und weil ich wusste, dass Mutter ihm das
erzogen werden. Bei euch stand doch die Flasche
Antwort auffassen konnte.
seither nicht mehr gefahren, weil Pap´s Wagen der
erzählt haben musste, obwohl es eigentlich nicht
mit Selbstgebranntem gleich hinter der Tür.« Paps
»Es ist ja nicht so, dass du nur einen Wagen fahren
Firma gehörte und Mutter Angst hatte, dass etwas
stimmte.
antwortete nicht. Dann kam eine Krankenschwester
musst. Das Wichtige ist der Umgang mit Menschen,
passieren könnte.
»Schön«, meinte er, »sehr schön. Das ist nämlich
ins Zimmer, die die Blumen mitnahm, und ich weiß
dafür wirst du Einfühlungsgabe brauchen, und
Ich bekam dann eine Ausweiskarte, für die ich noch
wichtiger, als du dir vielleicht vorstellen kannst.
nur noch, dass wir später im Bus saßen, ohne
ich bin deshalb besonders froh, dass du eine gute
ein Passfoto mitbringen sollte, und der Pastor fuhr
Unsere alten Leute hier sind oft misstrauisch, es
miteinander zu sprechen.
Schulbildung hast. Das ist ja heute gar nicht mehr
mich zurück.
passiert ja schließlich auch so allerhand. Du wirst
Der Pastor fuhr mit mir, nachdem er zweimal
selbstverständlich.«
»Sei pünktlich morgen«, sagte er, als er vor dem
dich dann weniger wundern, dass einige die Kette
telefoniert hatte, zur Caritas. Ich kannte das
Nun wusste ich ziemlich genau, was ich mit meiner
Gemeindebüro auf seinen Parkplatz einbog. »Du
nicht von der Tür nehmen und verlangen, dass du ihr
Gebäude, weil ich dort den Erste-Hilfe-Kurs
Schulbildung bisher hatte anfangen können, und
musst spätestens um elf Uhr dort sein. Und mach
Essen auf die Fußmatte stellst. Viele holen es erst
gemacht hatte, den sie für den Führerschein
weshalb die Rentner in der Siedlung gerade darauf
mir keinen Ärger. Sie setzen eine ganze Menge
herein, wenn du längst fort bist.«
verlangen. Das waren so Sachen, bei denen ich
Wert legen sollten, wenn sie nicht mal die Kette von
Vertrauen in dich.« Er redete tatsächlich, als müsse
Sollen sie es doch bleiben lassen, dachte ich. So wie
mir ziemlich blöde vorgekommen war. Zwei Mann
der Tür nahmen, war mir überhaupt nicht klar. Von
ich ihm unendlich dankbar sein.
die Dinge lagen, hatte ich wirklich keine Lust, mich
mussten ihre Hände über Kreuz legen und darauf
der Rampe herunter begrüßte ihn eine Frau, die eine
auch noch verdächtigen zu lassen, denn darauf lief
ein Mädchen, das leise kicherte, zwischen den
Art Uniform trug, und ich war sofort erleichtert,
Bei uns in der Straße war es ruhig. Auf dem
es doch hinaus.
Schulbänken umhertragen. Sie hatten in dem Raum
dass ich ihm so nicht zu antworten brauchte.
Spielplatz saßen einige Mütter, die wohl sofort nach
Im Rücken des Pastors hing oben auf der weißen
richtige Schulbänke, aber welche für Erstklässler,
Obwohl ich ihm dazu natürlich etwas hätte erzählen
dem Mittagessen mit ihren Kindern hergekommen
Wand ein Kruzifix, und ich musste, während er
bei denen ich überall mit den Knien anstieß. Ganz
können. Aber das wollte er bestimmt gar nicht
waren, neben der Sandkiste auf den Bänken und
mir alles erklärte, an Marias Keuchhusten denken.
vorn, vor der Tafel, lag auf einer der Bänke eine
so genau wissen. Die Frau sprach ihn mit seinem
sahen ihren Säuglingen beim Krabbeln zu. Als ich
Damals war sie noch ganz klein gewesen, so vier
mannsgroße Puppe aus fleischfarbenem Plastik mit
Namen an, er hieß Weiniger, und mir fiel in diesem
vorbeiging, hörte ich, dass sie sich über die Katzen
oder fünf Jahre, und als wir sie am ersten Tag
einem Taschentuch über dem Mund. In der Brust
Moment erst auf, dass er sich mir überhaupt nicht
unterhielten, die in der Nacht immer in den Sand
in der Klinik besuchten, hatte sie auf ein Kruzifix
war ein aufblasbarer Gummiballon, und wir mussten
vorgestellt hatte. Auch von Mutter hatte ich seinen
pissten. Sie mochten ihre Kinder hier gar nicht
gezeigt, das über der Tür angebracht war, und mit
diese Puppe beatmen, einer nach dem anderen,
Namen nie gehört, für sie war er immer nur der
spielen lassen, taten es aber natürlich trotzdem.
ihrem dünnen Stimmchen gesagt: »Kuckt mal, da
immer durch dasselbe Taschentuch.
Pastor gewesen, so wie sie Heitkamp stets nur als
Auf einer Bank lag ein Penner. Er schlief mit weit
haben sie einen Verbrecher angenagelt.« Paps
Wir parkten hinten neben einer Rampe, an der ein
den Doktor bezeichnete, ganz als gäbe es nur den
offenem Mund, eine leere Zweiliterflasche lag
hatte nur gelacht und ihr das schweißnasse Haar
VW-Bus stand, der gerade mit Fertigessen beladen
einen.
im Dreck neben einer Plastiktüte, und die Kinder
gestreichelt. Sie war vom Husten ganz erschöpft.
wurde. Sie schoben die Tablettstapel, an denen
Sie führten mich durch einen Seiteneingang in
machten einen weiten Bogen um ihn.
Glücklicherweise schlief sie gleich danach ein, aber
überall Zettel klebten, mit einem kleinen Rollwagen
die Küche, wo alle schon beim Abwasch waren.
Im Treppenhaus, als ich schon an Mutter
Mutter hatte sie trotzdem beschimpft. Ich erinnerte
neben die offene Seitentür des Wagens und luden
Der Kachelboden war überall nass, die Kochkessel
dachte, kramte ich den Caritasausweis aus der
mich genau, dass sie gesagt hatte, es werde noch
dann ein. Ich hatte dem Pastor während der Fahrt
gingen mir bis zur Brust, und einige Leute wischten
Jackentasche. Ich war seltsamerweise ganz
52 01/2023 www.experimenta.de 53
Prosa
Prosa
zufrieden und klingelte, obwohl ich wusste, dass
Maria sich ärgern würde, wenn sie mir öffnen
musste.
Bis zum Abend saß ich in meinem Zimmer und las.
Dann ging ich rüber in Ruschkes Kneipe, wo Eike
schon auf mich wartete. Er wollte im Hinterraum
Dart spielen, aber es war außer uns beiden niemand
da, und das war langweilig. Wir tranken einige Biere,
die wieder zu warm waren. Am Nebentisch saßen
zwei Türken, und Eike rief zu ihnen hinüber, sie
sollten sich so unterhalten, dass ein Deutscher sie
auch verstehen könnte. Er hatte es immer mit den
Türken, obwohl er mal kurz mit einem türkischen
Mädchen gegangen war. Sie war Jahre vorher
im Gemeindekindergarten gewesen, wir kannten
uns ja alle schon ziemlich lange. Aber dann, mit
sechzehn oder so, hatte sie ein Kopftuch tragen
müssen, und Eike hatte sie nicht mehr auf dem
Mofa mitgenommen. Die sollten sich hier nicht
rumdrücken, meinte er, wenn sie doch nichts
mit uns zu tun haben wollten. Er schaute etwas
unglücklich dabei, als sei er sich in Wirklichkeit nicht
ganz sicher, und der Satz klang auch verdammt
nach seinem Vater.
Früh machte ich mich auf den Weg nach Hause
und dachte, dass ich mir vielleicht eine Lederjacke
kaufen könnte; natürlich nur, wenn das bei der
Caritas einige Zeit hielt. Ich hätte auch gern ein
Motorrad oder wenigstens ein Moped gehabt, aber
das war wohl ganz unmöglich. Im zweiten Stockwerk
des Treppenhauses roch es nach Zitrone. Frau
Saupe, die Frau des Hausmeisters, der für den
ganzen Block zuständig war, wischte alle zwei Tage
die Treppe, obwohl es da wirklich nichts zu wischen
gab.
× Sandra Eisenbarth,
Tischlein deck‘ dich
In der Küche saß Paps neben der Anrichte und
füllte die Lottoscheine fürs Wochenende aus. Das
war eine ziemliche Arbeit. Sie hatten in der Firma
diese Lottogemeinschaft, und Paps machte dafür
seit Jahren den Kassierer. Ich glaube, es waren
so zehn Leute, die immer zusammen tippten. Sie
hatten schon mehrmals vier und fünf Richtige
gehabt und einmal auch was mit Zusatzzahl, aber
bei zehn Leuten kam für jeden trotzdem nur wenig
heraus; obwohl, den Teppichboden im Wohnzimmer
hatte Paps von solch einem Gewinn bezahlt. Er war
unheimlich stolz darauf gewesen und hatte gesagt:
»Da sind ja noch ganz andere Möglichkeiten drin,
man muss nur wirklich konsequent bleiben und
stur weitermachen, auch wenn es mal schlecht
aussieht.«
Ich ging zu ihm hinüber und sah ihm zu, bis er die
Reihe fertig hatte. Dann blickte er auf und sagte:
»Du riechst nach Bier.« Ich wusste aber, dass er
nicht wirklich etwas dagegen hatte. »Hoffentlich
war es nicht zu viel«, sagte er, »ich meine, weil du
morgen fahren sollst, ich hab’s schon gehört.«
Mutter hatte es also vorher nicht mit ihm
besprochen. Vermutlich hatte sie ihm erst davon
erzählt, als sie ganz sicher war, dass ich es machen
würde.
Ich schüttelte nur den Kopf und sagte: »Nacht«. Er
brummte etwas und wandte sich sofort wieder den
Tipplisten zu. Auf seinem Hinterkopf konnte ich die
runde Stelle mit den dünnen Haaren sehen, die er
immer darüber kämmte, und ich musste plötzlich
daran denken, dass er mir bis vor drei Jahren zur
Nacht noch einen Kuss gegeben hatte.
In meinem Zimmer war es stickig, und es roch um
den Bettkasten nach Möbelpolitur. Also war Mutter
über Tag auf gewesen. Ich öffnete das Fenster,
aber es kam keine kühlere Luft herein, und ich
legte mich nackt aufs Bett, ohne mich zuzudecken.
Vom Wiesendamm kamen die Fahrgeräusche der
Autos herüber, es war ein an- und abschwellendes
Rauschen, und ich konnte natürlich nicht
einschlafen. Als es kurz darauf klopfte, kroch ich
unter die Decke und machte die kleine Tischlampe
an. Paps kam ins Zimmer und sah sich um, als sei er
seit Ewigkeiten nicht mehr hier drin gewesen, und
das stimmte ja wohl auch.
»Du schläfst doch noch nicht, oder?« fragte er.
Ich drehte mich auf den Bauch und blickte ihn an.
»Ich hoffe, du machst dir wegen morgen keine
Gedanken.« Er sah schmal und verlegen aus.
»Nein«, sagte ich, »mach ich nicht.«
»Es ist ja kein besonders großartiger Job«, sagte
Paps, »aber es ist ein Anfang, findest du nicht
auch?«
Ich sagte: »Klar, ich freu mich schon drauf.« Er
schien zu ahnen, dass ich log und meinte schnell:
»Man kann ja nie wissen, ob sich nicht bald was
anderes für dich findet. Manchmal ergibt sich
was.« Ich nickte nur. Paps tastete zögernd nach
der Türklinke, öffnete die Tür aber nicht und blieb
im Zimmer stehen. Die Straßengeräusche waren
plötzlich ganz fort, und ich hörte seinen Atem. Er
stand da, als lausche auch er seinen Atemzügen,
oder als sehe er was in meinem Zimmer, das
ich nicht sehen konnte. Ich fühlte mich etwas
unbehaglich, weil er sich gar nicht bewegte, und
wollte schon irgendwas sagen, als Mutter von der
Küche her seinen Namen rief. Paps blickte auch
jetzt nicht auf. Er wandte sich zur Tür, ohne mich
nochmals angesehen zu haben.
»Mach’s gut«, sagte er, »und schlaf erstmal. Man
darf die Hoffnung nie aufgeben. Du weißt ja, morgen
ist ein anderer Tag.«
Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, warf
ich voller Wut das Kopfkissen auf den Boden. Ich
war auf einmal wütend auf Paps’ Hilflosigkeit,
wütend auf seine Duldsamkeit, seine lächerlichen
Lottoscheine und die unnützen Elektrogeräte, mit
denen er Mutter eine Freude zu machen versuchte.
Er machte mich wütend, so wie er war. Gleichzeitig
wäre ich ihm gern nachgelaufen, um ihn in die Arme
zu nehmen, nur schämte ich mich zu sehr.
Bevor ich spät in der Nacht einschlief, dachte ich
aber, vielleicht ist morgen ja doch ein anderer
Tag, und ich sagte halblaut vor mich hin: »Gut,
ich versuch’s. Vielleicht stimmt es ja für mich
tatsächlich.«
× Peter H. E. Gogolin schreibt Romane, Erzählungen, Theaterstücke, Drehbücher, Lyrik und Essays. Für sein
umfangreiches schriftstellerisches Werk erhielt er zahlreiche Stipendien und Preise, u.a. den Hamburger Literaturpreis,
den Esslinger Stadtschreiberpreis und den Preis der Villa Massimo in Rom. Eines seiner Hauptwerke ist der Roman
„Calvinos Hotel“, der eine Trilogie abschließt, in der er sich mit der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert befasst.
Zuletzt erschien sein Roman „Nichts weißt du, mein Bruder, von der Nacht“, eine Auseinandersetzung mit den Themen
Freitod und Depression, sowie sein autobiografischer Band „Kein Jahr der Liebe“. Er ist Mitglied des PEN.
54 01/2023 www.experimenta.de 55
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Impressum
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experimenta
Magazin für Literatur, Kunst und Gesellschaft
www.experimenta.de
Herausgegeben vom INKAS – INstitut für KreAtives Schreiben
im Netzwerk für alternative Medien- und Kulturarbeit e. V.,
Dr.-Sieglitz-Straße 49, 55411 Bingen
Herausgeber:
Prof. Dr. Mario Andreotti und Rüdiger Heins
Redaktion:
Dr. Anita Berendsen (Prosa),
Kevin Coordes (Prosa, Social Media und Werbung),
Philip J. Dingeldey (Prosa),
Katharina Dobrick (Social Media),
Claudia Eugster (Kunst und Kultur),
Jens-Philipp Gründler (Kunst und Kultur, Prosa und
Sound Voices),
Rüdiger Heins,
Prof. Dr. Dr. Dr. Klaus Kayser (Lyrik und Prosa),
Erich Pfefferlen (Endkorrektur und Pressearbeit),
Franziska Range (Bildredaktion, Lyrik, Prosa),
Minna Maria Rembe (Lyrik und Beratung),
Barbara Rossi (Lyrik und Social Media),
Peter Rudolf (Haiku-Redakteur),
Dr. Annette Rümmele (Prosa und Kunst),
Nora Hille (Gesellschaft),
Barbara Schleth (WortArt, Kultur und Schule, Social Media),
Ingrid Weißmann (Kulinarisches),
Barbara Wollstein (Filmkolumne)
Korrespondenten:
Prof. Dr. Mario Andreotti (St. Gallen, CH),
Isobel Markus (Berlin),
Xu Pei (Köln),
Christian Sünderwald (Chemnitz)
Layout und Gestaltung: Franziska Range
Webmaster: Christoph Spanier
Künstlerische Beratung: Rüdiger Heins
Druck: BookPress
Redaktionsanschrift:
experimenta
Dr.-Sieglitz-Straße 49
55411 Bingen
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Literarische Beiträge bitte mit Bild und Kurzvita an:
redaktion@experimenta.de
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Für die Inhalte und die künstlerische Aussage der Texte,
Fotografien und Illustrationen sind die Urheber und
Urheberinnen selbst verantwortlich. Sollte gegen geltendes
Urheberrecht verstoßen worden sein, bitten wir um sofortige
Benachrichtigung.
© ID Netzwerk für alternative Medien- und Kulturarbeit e. V.
Auflage: 100.000
ISSN: 1865-5661
URN: urn:nbn:de:0131-eXperimenta-2023-010
Bilder: Privatbilder wurden von den Autoren und Autorinnen
selbst zur Verfügung gestellt.
Titelbild: Sandra Eisenbarth
58 01/2023
experimenta
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× Sandra Eisenbarth ,Traumtänzer (kein Partyhengst)